#Sachbuch

Don Juan kommt aus dem Krieg

Nicole Katja Streitler (Hg.)

// Rezension von Gerhard Hubmann

Am Anfang eines groß angelegten Editionsvorhabens steht zumeist eine Unzufriedenheit. Traugott Krischke, Nachlassverwalter Ödön von Horváths und emsiger Herausgeber von dessen Werk, setzte die Horváth-Forschung zwar über die komplexe Arbeitsweise des Autors in Kenntnis und lud damit zu textgenetischen Untersuchungen ein, lieferte das entsprechende Nachlass-Material aber in einer editionswissenschaftlich unzulänglichen und unverlässlichen Form. Interpreten, die sich darauf stützten, riskierten, sich unverschuldetermaßen im Labyrinth literarischer Textentwicklung zu verirren.

Klaus Kastberger, verantwortlich für den Horváth-Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, und sein EditorInnen-Team sind im Begriffe, diesen Missstand zu beheben. Sie wollen der „textnahen“ Interpretation, die sich auch eingehend mit den Vorstufen der Werke auseinandersetzt, eine solide Grundlage bieten. Sorgfältig geplant und mit etlichen Aufsätzen editionswissenschaftlich vorbereitet, wurde für die Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Horváths ein 18 Bände umfassender Editionsplan vorgelegt. Gestartet wurde 2009 mit dem Volksstück „Kasimir und Karoline“ (Band 4), 2010 erschienen „Der ewige Spießer“ (Band 14) und „Don Juan kommt aus dem Krieg“ (Band 9). (Es ist nicht unüblich, dass sich ausgerechnet Editoren, deren Geschäft ja die chronologische Ordnung von Texten ist, selber nicht an die Band-Chronologie ihres Editionsplans halten.)

Gleich der Einstieg ins Vorwort des von Nicole Streitler verantworteten Bandes Don Juan kommt aus dem Krieg zeigt das Bemühen um Benutzerfreundlichkeit. Bevor von der Werkentstehung, dem dazu gehörigen Nachlass-Material (und dessen Anordnung im Band) und abschließend kurz von der Rezeption die Rede ist, findet sich eine knappe Übersicht von Daten und Fakten zum Stück: Horváth arbeitete daran in den Jahren 1934 bis 1936, die Uraufführung fand 1952 in Wien statt, der Erstdruck, besorgt von Traugott Krischke, erschien 1961 bei Rowohlt; in dieser Ausgabe füllte das Stück 40 Seiten (vgl. S. 1).
Was umgibt den schmalen Dramentext in der Wiener Ausgabe, sodass daraus ein 516-seitiges Buch im Quart-Format wird?
Es besteht aus vier Teilen: Den Rahmen bilden das erzählende Vorwort und ein Anhang, der neben einschlägigen Literaturangaben die notwendigen Paratexte enthält, die eine sinnvolle Arbeit mit einer historisch-kritischen Ausgabe überhaupt erst ermöglichen: Editorische Prinzipien, die Erläuterung diakritischer Zeichen und anderer Besonderheiten der Textpräsentation sowie ein Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen. Zwischen Vorwort und Anhang befinden sich der mit „Lesetext“ überschriebene Hauptteil (S. 15–417) und der darauf bezogene „Kommentar“ (S. 419–489).

Das Bedürfnis nach einem zitierbaren abgeschlossenen Dramentext bedient der Band mit der sogenannten „Endfassung, emendiert“ (S. 377–417), das Hauptgewicht liegt aber auf der Rekonstruktion dessen, wie sich Horváths „Don Juan“ zu dieser Fassung hin entwickelt. Es wird das gesamte Nachlass-Material aufbereitet, das mit dem „Don Juan“-Drama in Verbindung zu bringen ist. Dabei verrät die bescheidene Bezeichnung „Lesetext“ nicht gleich, dass man es mit einer großzügigen Faksimile-Ausgabe zu tun hat. Von den insgesamt „299 Blatt an Entwürfen und Textstufen“ (S. 1) sind sämtliche handschriftliche Textzeugen als Schwarzweiß-Reproduktionen jeweils auf einer linken Buchseite abgebildet, rechts gegenüber bietet die Ausgabe eine Entzifferung der im Allgemeinen gut lesbaren lateinischen Schrift Horváths an. Es handelt sich bei den etwa 110 Abbildungen größtenteils um Seiten aus zwei kleinformatigen Notizbüchern (ca. 90); den Rest bilden lose Blätter größeren Formats, die etwas verkleinert wiedergegeben sind. Bei der Entzifferung der Handschriften wird im Sinne des angekündigten „Lesetextes“ ergänzend verfahren. Vor allem im Wortinneren lässt Horváth immer wieder Buchstaben miteinander verschmelzen, sodass beispielsweise eine Buchstabenfolge auf den ersten Blick wie „Vohg“ aussieht. Ohne Umstände wird diese Einheit als „Vorhang“ transkribiert (S. 92f.). Das mag bei Hardlinern des Handschriften-Edierens Unbehagen auslösen, erleichtert aber das Lesen und etwaiges Zitieren; außerdem wird dank der gegenüberliegenden Faksimiles ja nichts vor dem Leser verschleiert.

Gerade die überlieferten Handschriften zum „Don Juan“ bezeugen Horváths Ringen um angemessene Formen, insbesondere die zahlreichen Skizzen zum Aufbau, die von simplen Aufzählungen der Bestandteile und deren Titel bis hin zu beeindruckend komplex wirkenden, von Pfeilen durchkreuzten Bauplänen (S. 20f.) reichen. Beim Durchblättern des „Don Juan“-Bandes beginnt man zu ahnen, dass die letzte Fassung des Stücks nicht unbedingt das beste Endprodukt darstellt, sondern eher das Ergebnis einer an einem beliebigen Punkt abgebrochenen Textarbeit. Horváths Arbeitsweise bringt die Mär vom perfekten Text ordentlich in Bedrängnis.

In handschriftlicher Form festgehalten sind weiters Chansons, ein Romanfragment und Entwürfe von Dialog-Passagen. Die hauptsächliche Arbeit an den Dialogen, die sprachliche Feinarbeit, manifestiert sich aber in den Typoskripten zum „Don Juan“. Bis auf eine Ausnahme (S. 220) finden sich bedauerlicherweise keine Reproduktionen von maschinschriftlichen Textzeugen, obwohl auch diese – wie im Profile-Band zu Horváth („Unendliche Dummheit – dumme Unendlichkeit“, 2001) zu sehen ist – handschriftliche Überarbeitungen aufweisen. Außerdem belegen sie Horváths berüchtigte Schneide- und Klebetechnik, die aber auch ein Grund dafür sein wird, warum die Typoskripte nicht abgebildet sind, sondern lediglich deren Text sauber ediert (mit Variantenverzeichnung im Fußnoten-Bereich) wiedergegeben wird. Denn einzelne Typoskriptseiten oder Seitenfragmente gehören mehreren Phasen der Textentstehung an. Im „Anhang“ veranschaulichen vier „Simulationsgrafiken“ zu den Dramen-Bestandteilen der Endfassung (S. 492–496) die Wege der Textträger (die „Materialwanderung“). Wenn man sich die Entstehung eines Textes in abgrenzbaren Stufen vorstellt, so hat Horváth brauchbare Blätter von verworfenen Textstufen einfach in die nächste Stufe integriert. Die diskontinuierlichen Textspuren dieser Arbeitsweise können leicht den falschen Eindruck einer lückenhaften Überlieferung erwecken. Sie machten nicht nur der ersten Bearbeiterin des Horváth-Nachlasses, Lieselotte Müller, zu schaffen, sondern bildeten auch die Grundlage für die textkritischen Kalamitäten in Krischkes Ausgaben.

Um der historischen Dimension der Textentwicklung gerecht zu werden, wurde das vielfältige Material zum „Don Juan“ fünf „Konzeptionen“ zugeordnet. Konzeptionen werden in der Wiener Ausgabe einzelne entstehungsgeschichtliche Phasen genannt, die mit Hilfe verschiedenartiger Kriterien mehr oder weniger klar voneinander abgrenzbar sind. Der interpretatorische Aufwand, Produktionsphasen zu abstrahieren, die einzelnen Textträger zu gruppieren und chronologisch zu reihen, muss beträchtlich gewesen sein und kann vermutlich vom Leser gar nicht angemessen wahrgenommen und geschätzt werden.

Während der ersten drei Konzeptionen lief das Werk unter dem Titel „Ein Don Juan unserer Zeit“; unterschieden werden sie in der Wiener Ausgabe durch die Zusätze „Zeitstück“, „Filmexposé“ und „Großmutter“. Die Konzeptionen 4 und 5 heißen wie die endgültige Fassung „Don Juan kommt aus dem Krieg“, wobei das Werk einmal „in vier Teilen“ geplant war, das andere Mal „in drei Akten“ ausgeführt wurde. Die Zusätze deuten auf die Kriterien hin, mittels derer die „Konzeptionen“ definiert sind: Zweimal kommt das Merkmal „Gattung“ oder „Genre“ zum Tragen („Zeitstück“ und „Filmexposé“), einmal steht eine Figur im Mittelpunkt („Großmutter“), die beiden letzten Konzeptionen unterscheiden sich hinsichtlich des Dramen-Aufbaus.

Vor allem das erste Auftauchen der Großmutter markiert eine Schlüsselstelle der Textentwicklung. Sukzessive verschiebt Horváth den Zeitpunkt, wann Don Juan vom Tod des Mädchens erfährt, mit dem er vor dem Krieg liiert war. Zu Beginn der Konzeption 3 trifft Don Juan bereits am Ende des ersten Teils mit der Großmutter zusammen. Sie berichtet vom Tod ihrer Enkelin und erkennt in Don Juan den „Schurke[n]“ (S. 159), den sie für ihren Verlust verantwortlich macht. In der letzten Fassung ist die Großmutter darüber seit Don Juans erstem Brief (3. Szene, 1. Akt) im Bilde, den sie wie alle weiteren unbeantwortet lässt. Don Juan hingegen muss auf die Todesnachricht bis zum Schluss warten, was dem Drama einen straffen Spannungsbogen verleiht.

So sinnvoll die systematische Ordnung des originalen Materials nach Konzeptionen ist, die editorischen Entscheidungen bleiben hinterfragbar. Es ist beispielsweise ein Grenzfall, ob das Material zum „Filmexposé“ genug für eine eigene Konzeption hergibt oder nicht. Der Text des Exposés ist in drei Typoskripten überliefert, wobei die Abweichungen – wie die Herausgeberin eingesteht – keine substanziellen sind. Davon kann sich der Leser überzeugen: Jedes der drei Typoskripte ist einzeln ediert, zusammen füllen sie gerade einmal 12 Seiten. Zu allem Überfluss bringt der Kommentar zu dieser Konzeption eine regestenhafte Beschreibung des Exposé-Inhalts (wohlgemerkt angereichert mit nützlichen Verweisen auf Elemente anderer Entstehungsphasen).

Die Präsentation der Konzeption „Filmexposé“ macht den Eindruck, als wäre die Herausgeberin nicht ganz glücklich gewesen über das unterschiedliche Gewicht der einzelnen Gruppen. (Im Band haben die Konzeptionen 1 bis 5 folgenden Seitenumfang: „Zeitstück“ S. 17–133, „Filmexposé“ S. 135–148, „Großmutter“ S. 149–206, „in vier Teilen“ S. 207–243 und „in drei Akten“ S. 245–375.) Damit die „Filmexposé“-Konzeption nicht völlig untergeht, wurde sie durch unnötige Wiederholung vergrößert. Ihr hätte – unter einem anderen Titel – das einzige Blatt, das von einem Roman „Ein Don Juan unserer Zeit“ erhalten ist, an die Seite gestellt werden können. Das Roman-Fragment befindet sich aber als Fremdkörper in der ersten Konzeption „Zeitstück“ (S. 48). Ähnliche Schwierigkeiten gab es mit dem ersten faksimilierten Textzeugen (S. 18), der nur behelfsmäßig in der „Zeitstück“-Gruppe platziert wurde: „Aus diesem einzelnen Entwurf eine eigene Konzeption oder Vorarbeit zu machen, erscheint als nicht sehr sinnvoll.“ (S. 421)

Letzten Endes wiegen solche Einwände gegen die vorgenommene Ordnung nicht sonderlich schwer. Wichtig ist, dass nun das Material zum „Don Juan“ vollständig und bestens ediert zur Verfügung steht. Eigene Hypothesen zur genetischen Reihenfolge sind legitim. Einen wichtigen Bezugspunkt dafür bilden die Konzeption 5 mit der „Fragmentarischen Endfassung“ und die daraus erstellte „Endfassung, emendiert“; der nicht überlieferte Schluss wurde dafür aus dem neunten Band der Gesammelten Werke übernommen, da Krischke offenbar noch das vollständige Typoskript vorgelegen hatte (vgl. S. 489).

Die editorische Leistung steigt mit der schlüssigen Begründung der Herausgeber-Entscheidungen und ist im Fall des „Don Juan“-Bandes beachtlich. Im „Kommentar“-Teil (S. 419–489) werden die Textzeugen nicht nur in chronologischer und konzeptioneller Reihenfolge nach allen Regeln der Archivier-Kunst beschrieben, sondern auch penibel die Argumente dargelegt, warum die Herausgeberin die einzelnen Originale so und nicht anders angeordnet hat. Das gestattet dem Leser, den editorischen Umgang mit dem vorhandenen Material nachzuvollziehen, wie es seit D. E. Sattlers Frankfurter Hölderlin-Ausgabe zum guten Ton der Editionswissenschaft gehört.

Wort- und Sacherklärungen hingegen bietet der Kommentar nicht. Das ist bei einzelnen Wörtern nicht sehr problematisch: Was man unter einer „Soubrette“ versteht, ist schnell nachgeschlagen. Vielleicht hat man auch die von Krischke kommentierte Ausgabe zur Hand, die einen Einzelstellen-Kommentar beinhaltet. Über manche Gegenstände aber, die durchaus in den Geltungsbereich der Wiener Ausgabe fallen, würde man sich mehr Information wünschen. In der ersten Konzeption ist eine Seite abgebildet (S. 60), auf der Horváth in zwei Listen mehrere literarische Werke und Autorennamen gesammelt hat, darunter „Andersens Märchen“, „Das Gespenst von Canterville“, „Gargantua“ oder „Casanova“, neben Titeln wie „Tierschutz“ oder „Verblödete Zeiten“. Für die Herausgeberin sind die „Werkverzeichnisse“ „insofern interessant, als sie beide einen Werktitel Der Büstenhalter enthalten, ein Titel“ (S. 431), der in folgenden Entwürfen und Plänen zum „Don Juan“ noch auftauchen wird. Wären hier nicht ein paar Sätze über die seltsame Zusammenstellung dieser Listen angebracht, auch wenn die Erläuterungen einem Einzelstellen-Kommentar nahe kämen?

Dem „Büstenhalter“-Problem und gewichtigeren interpretatorischen Fragen kann die Horváth-Forschung nun auf gut gesichertem Weg nachgehen. Da sie bisher keinerlei Berührungsängste im Umgang mit textgenetischem Material gezeigt hat, wird sie dankbar mit dem Band Don Juan kommt aus dem Krieg der historisch-kritischen Edition arbeiten. Darüber hinaus verdient es die Wiener Ausgabe, zum Untersuchungsgegenstand der Editionswissenschaft zu werden, die sie methodologisch unter die Lupe nimmt.

Nicole Katja Streitlter (Hg.) Don Juan kommt aus dem Krieg
Unter Mitarbeit von Julia Hamminger und Martin Vejvar.
Bd. 9 der Wiener Ausgabe sämtlicher Werke.
Historisch-kritische Edition; am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek herausgegeben von Klaus Kastberger.
Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2010.
516 S.; geb.
ISBN 978-3-11-022627-0.

Rezension vom 03.05.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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