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Doderer-Lektüren

Stefan Winterstein

// Rezension von Ursula Ebel

Seine Absicht sei es, „sich nicht in werkimmanenten Mikroproblemen und pedantischen Zerlegungen zu verlieren […]. Ziel der vorliegenden Essays, die eher die Pointe suchen als die Weitschweifigkeit, ist es, jeweils einen verborgenen (noch unentdeckten oder allzuleicht zu übersehenden) Sinn der behandelten Romantexte herauszuarbeiten, der diese in ihrer jeweiligen Gesamtheit charakterisieren könnte.“ (S. 10) Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, setzt Stefan Winterstein auf unterschiedliche Schwerpunkte und Herangehensweisen in seinen Analysen der fünf nach 1945 erschienenen Romane des österreichischen Romanciers Heimito von Doderer (1896-1966): Die erleuchteten Fenster (1951), Die Strudlhofstiege (1951), Die Dämonen (1956), Die Merowinger (1962) und Die Wasserfälle von Slunj (1963).

Er nähert sich den Romanen auf ganz unterschiedliche Weise, mittels Bezugnahme auf andere Stimmen aus der Doderer-Forschung oder über die Einbettung eines Romans in zeitgenössische sozial- und geisteswissenschaftliche Theorien, setzt also auf Heterogenität hinsichtlich der angewandten methodischen Verfahren. Die Auswahl der Werke Doderers ist für Winterstein in ihrer besonderen Qualität begründet, sie stellen die „reizvollste[n] und herausforderndste[n] Romane“ (S. 10) des Autors dar. Obwohl es sich um die letzten Romane des Autors handelt, sei es „dennoch verfehlt, dabei von Doderers Spätwerken zu sprechen“ (S. 10), da dieser etwa die Arbeit an Die Dämonen bereits 1929 aufgenommen hatte.

„Mein eigentliches Werk besteht, allen Ernstes, nicht aus Prosa oder Vers: sondern in der Erkenntnis meiner Dummheit.“ (S. 9) Mit diesem Zitat aus Doderers „Meine neunzehn Lebensläufe und neun andere Geschichten“ eröffnet Winterstein sein Vorwort und gibt zu bedenken, dass diese eher pauschale Selbstreflexion des Autors – etwa in Bezug auf sein politisches Engagement – im Detail Diskussionsspielraum offen lässt. Winterstein spielt damit auf den NSDAP-Beitritt Doderers im Jahr 1933 an, ohne diesen jedoch explizit zu benennen. In Bezug auf die „politischen Irrwege“ des Autors würden, Winterstein folgend, in der wissenschaftlichen Debatte aktuell zwei konträre Positionen vorherrschen, entweder werde die NS-Vergangenheit ausgeblendet oder die Prosa Doderers verschwinde vollkommen hinter ihr. Winterstein mahnt eine differenzierte Perspektive ein, denn „die Vorzüge seines Werks, seines ‚uneigentlichen Werks‘ sozusagen, nämlich vor allem der Prosa, zu leugnen, und diesem seine Gültigkeit abzusprechen, wäre schade.“ (S. 9)

Der Wiener Germanist, der 2008 bis 2015 Vorstandsmitglied der Heimito-von-Doderer-Gesellschaft war, bezieht nicht nur sämtliche Texte des Romanciers, publizierte Werke wie Archivmaterialien, mit ein, sondern rekurriert auch auf eine Vielzahl an Sekundärarbeiten. Dabei geht Winterstein von einem kundigen Leser/einer kundigen Leserin aus. Auf die Handlung der Romane wird etwa nur in Einzelfällen, wie im ersten Kapitel zu „Die erleuchteten Fenster“ eingegangen. Einschübe Wintersteins wie „bekanntermaßen“ (S. 54), „bekanntlich“ (S. 64) oder „… ist kein Geheimnis“ (S. 79) im Rahmen der Analysen markieren die Ausrichtung auf ein Fachpublikum, das er direkt anspricht, auch wenn es sich um von diesen selbst verbreitete Irrtümer handelt: „Daß die oft kolportierte Exaktheit Doderers – der eingangs erwähnte „akribische Realismus“ – Grenzen hatte, sei allen einschlägigen, gutgläubigen Kolporteuren, auch wenn sie es nicht lesen wollen, ins Stammbuch geschrieben.“ (S. 53) Auf sprachlicher Ebene sucht Winterstein somit die direkte Konfrontation mit etablierten Doderer-ForscherInnen. Dieser ambitionierte Zugang manifestiert sich jedoch auch in den einzelnen Analysen. Denn Winterstein ist nicht nur an der Auseinandersetzung mit Diskursen aus der Doderer-Forschung gelegen, sondern auch an deren Widerlegung.

Diese Herangehensweise wird beispielsweise in den Analysen von Die Strudlhofstiege und Die Merowinger deutlich: Im zweiten Kapitel „Wie man als Dichter ein Bauwerk annektiert: Die Strudlhofstiege (1951)“ greift Winterstein nach einer Darstellung der Auseinandersetzung und literarischen Aneignung der Strudlhofstiege durch Doderer, die die Verdrängung des Architekten Johann Theodor Jaeger aus dem kollektiven Gedächtnisses zur Folge hatte, die weitverbreitete These hinsichtlich des strengen Realismus Doderers auf. Hierfür nimmt er Bezug auf den Text Friedrich Achleitners „Von der Unmöglichkeit, Orte zu beschrieben. Zu Heimito von Doderers Strudlhofstiege“. Achleitner interpretiere eine Unstimmigkeit der Darstellung der Stiege als eine bewusste Entscheidung Doderers. Im Gegensatz dazu schließt Winterstein eine Assoziation mit einem Figurennamen sowie einen Irrtum des Autors nicht aus (Vgl. S. 53). Doderer sei seinem eigenen Anspruch nach Exaktheit nicht gerecht geworden: Akribisch weist Winterstein einige deutliche Differenzen zur architektonischen und geografischen Wirklichkeit nach, beispielsweise sei die Wiener ‚Boltzmanngasse‘ mehrmals falsch geschrieben, ebenso der Name des Architekten Jaeger, und zwar irrtümlich und nicht beabsichtigt, wie Achleitner vermutet hatte (vgl. S. 53): „Der Romancier hat die Stiege, die dalag „für jedermann“ (St. 331), genommen und anderes, eigenes, etwas Neues aus ihr gemacht.“ (S. 54) Die tradierte Zuschreibung, Doderers sei ein brillanter Realist gewesen, habe somit Winterstein folgend nur begrenzt Berechtigung.

Im vierten Kapitel „Brachial-Selbstparodie: Die Merowinger (1962)“ setzt sich Winterstein beinahe ausschließlich mit einem von Marlene Streeruwitz gehaltenen Vortrag auseinander, der unter dem Titel „Doderer lesen“ im Band „Gegen die tägliche Beleidigung“ (2004) abgedruckt wurde. In diesem Text beschreibt Streeruwitz ihre drei Romanlektüren von Die Merowinger im Verlauf mehrerer Jahrzehnte, die jeweils sehr unterschiedlich ausfielen. Sie kritisiert unter anderem Doderers lehrhafte Formulierungen in diesem Roman. Ihre „abschätzig[e] Klassifizierung als ‚Kalendersprüche'“ (S. 79), so Winterstein, blende die selbstironische Seite Doderers aus. Es sei überdies „massiv verzerrend“, wenn die Autorin dem Text frauenfeindliche Züge unterstellen würde, denn „[d]er Autor entlastet seinen Text über die narrative Konstruktion von jeder Moral und jeder moralischen Wertung.“ (S. 83)

Im Gegensatz zu den beiden skizzierten Essays wendet Winterstein bei der Analyse von Doderers erstem Roman im Kapitel „Beim Fernsehen abgestützt! Die erleuchteten Fenster“ (1951) ein gänzlich anderes methodisches Verfahren an, denn er setzt hier auf eine breite Kontextualisierung des Werks. An Stelle der Bezugnahme auf einen Text rückt die Einbettung des Romans in medienkritischen Theorien von Günther Anders, Walter Benjamin und Pierre Bourdieu. Auf Zitate von Günther Anders zu den Gefahren des Fernsehens, welches Familienmitglieder dazu brächte, nicht mehr einander gegenüber, sondern nebeneinander als bloße Zuseher ihre Zeit zu verbringen, stellt Winterstein die Frage in den Raum: „Entspricht das nicht ganz dem Bild der sich gemeinsam und doch bloß nebeneinander im dunklen Zimmer aufhaltenden, einander beschweigenden, ja kaum eines Blickes würdigenden Fernschauenden Wänzrich und Zihal?“ (S. 18) Der Hauptprotagonist Zihal fungiere, so Winterstein, als „historischer Prototyp“ jener von Anders beschriebenen „Schreckensbeispiele“ (S. 16) des Fernsehkonsums, denen die Fernseh- zur Ersatzfamilie geworden sei. Zudem bietet das Kapitel einen Überblick zum Verhältnis Medien und Wirklichkeit bei Doderer.

Winterstein ist nicht nur an der Analyse der Texte gelegen, er konzipiert auch eine neue Form des wissenschaftlichen Sachbuchs. Die lebendige Darstellung scheint dank sprachlicher und visueller Mittel eine klare Zielsetzung. Der Band bietet neben einigen Fotografien, die bekannte Wiener Schauplätze aus Doderers Biografie und Werk abbilden, auch rund ein Dutzend Zeichnungen samt Kommentaren Wintersteins. Eine der Grafiken zeigt einen Geldspeicher à la Entenhausen, an dem die Initialen „DD“ prangen, darunter findet sich Wintersteins Kommentar: „Die Abkürzung ‚DD‘ ist auch Donald-Duck-Lesern wohlbekannt…“ (S. 59). Das bezieht sich auf den Arbeitstitel „Dicke Damen“, im Tagebuch Doderers mit „DD“ abgekürzt, der später zu „Die Dämonen der Ostmark“ wurde. Eine andere Zeichnung stellt Doderer-Interessierten schlicht einige Aufgaben: „1. Gehen Sie die Strudlhofstiege! 2. Denken Sie dabei nicht an die „Strudlhofstiege“! 3. Viel Erfolg!“ (S. 52). Auf sprachlicher Ebene versucht Winterstein mit rhetorischen Fragen die Aufmerksamkeit seiner LeserInnen zu wecken und sie in seine Argumentationslinie miteinzubeziehen.

Die Unterschiedlichkeit der fünf Kapitel mag mit ihrer im editorischen Vermerk skizzierten Entstehungsgeschichte zusammenhängen, denn die Texte gehen sowohl auf gehaltene Vorträge, als auch auf bearbeitete und unveröffentlichte Beiträge zurück. Einzelne Analysen zeichnen sich nicht nur durch eine neue Interpretation der Werke, wie der Titel „Doderer-Lektüren. Die Romane nach 1945, neu gelesen“ vermuten lässt, sondern auch durch eine Entkräftung und Widerlegung gängiger Thesen der Doderer-Forschung aus, etwa in puncto realistischer Erzählweise und antifeministischer Positionen. Neben diesem ambitionierten Plan lotet Winterstein eine neue Form des wissenschaftlichen Sachbuchs aus, das auf Raum für die humorvolle Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt setzt. Die skizzierten Fachdiskussionen sind jedoch mitunter für Nicht-ExpertInnen nur schwer einzuordnen beziehungsweise zu bewerten. Als Manko des Buchs darf zudem angeführt werden, dass der Autor nach der Darlegung vielfältiger Theorieansätze und Interpretationen auf einen resümierenden Kommentar verzichtete.

Stefan Winterstein Doderer-Lektüren
Die Romane nach 1945, neu gelesen.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016.
118 S.; brosch.; m. Fotografien.
ISBN 978 3 8260 6007 6.

Rezension vom 06.04.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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