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disaster awareness fair

Kathrin Röggla

// Rezension von Kristina Werndl

Kathrin Röggla widmet sich in ihrem Doppelessay einem medial sehr präsenten Thema: dem Katastrophischen in unserer Gegenwart. Sie holt auf wenig Raum zu einem Rundumschlag aus und schreibt – unterstützt von Denkern und Soziologen wie Susan Sontag, Georg Simmel, Deleuze, Focault, Baudrillard, Luhmann und Ulrich Beck – über die Beziehungen zwischen Katastrophe und städtischem Raum, Katastrophe und Kollektiv, Katastrophe und politischer Inszenierung, Katastrophe und Film. Da sie ein untergründiges Verhältnis zwischen Film und politischer Erzählung vermutet, ist es ihr als gesellschaftlich und politisch hellhöriger Autorin ein Anliegen, dass das Katastrophenfilmgenre eine Neudefinition erfährt; gegenwärtig sieht sie es der Realität hinterherhinken.

Erforderlich sind ihrer Ansicht nach Katastrophenfilme, die sich an den postfordistischen Gegebenheiten des Heute orientieren, die „auf den klebstoff der kleinfamilie“ verzichten, die als „hybride mischungen“ offenlassen, „ob sie dokumentarfilme oder fictionfilme sind“. Die Kniffe der Science-Fiction-Autoren und biblischen Apokalyptiker, aktuelle Probleme zur Kenntlichkeit entstellt in einer näheren oder ferneren Zukunft zu verhandeln, lehnt sie ab. Die Katastrophenfilme, die ihr vorschweben, bleiben hautnah an der Realität und öffnen dem Zuseher schockhaft die Augen, sie erzählen „von einer welt, aus deren tatsächlichen zusammenhang unsere gegenwärtigen katastrophen entstehen, nicht die filme, die das futur gepachtet haben, sondern die, die uns fest gebucht haben“.

Röggla regt an, dass wir die „katastrophengrammatik“ lernen, weil sie „unser tägliches brot ist“. Katastrophenfilme sollen dabei als Motoren politischer Sensibilisierung fungieren. Das überrascht keineswegs. Schon ihre letzten Bücher und Theaterstücke setzten sich kritisch mit den Implikationen des Globalisierungsprozesses und seinen Auswirkungen auf die Privatsphäre des Menschen auseinander. In wir schlafen nicht (2004) erhielte man Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt von New-Economy-Menschen, in really ground zero (2001) erforschte Röggla die Realität nach dem 11. September 2001 in New York, wo sie sich zur fraglichen Zeit aufhielt.

Amerika ist neben Deutschland auch die Referenzfolie der vorliegenden Essays. Der erste, „geisterstädte, geisterfilme“, in Los Angeles als Eröffnungsrede für den „steirischen herbst“ 2005 entstanden, umkreist das Thema „Stadt“; der zweite ist thematisch weiterführendes Supplement. Stadt ist für Röggla jener Ort, „wo gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar werden können, wo Konflikte sich zeigen und politische Fragen sich deutlicher stellen lassen“; genau genommen aber eine „seltsame fiktion, die es in wirklichkeit gar nicht gibt … nur die vielzahl lässt einen verstehen, was das städtische sein könnte, nur das diskontinuierliche führt einen zu einem paradoxen zusammenhang“. Das deckt sich mit der soziologischen Auffassung von Städten als Teil kultureller, wirtschaftlicher, sozialer oder geschichtlicher Netzwerke.

Mithilfe ihres dies- und transatlantischen Erfahrungsarsenals entwickelt Röggla einen genauen Blick für die Dichotomien unserer modernen Gesellschaften: für die neue Immobilität armer Bevölkerungsschichten, die parallel verläuft zur Rede von der allgemeinen Flexibilisierung und Mobilisierung. Für die Diffusion privater und öffentlicher, militärischer und polizeilicher Belange. Für die neuen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten im öffentlichen Raum, zu sehen etwa in gated communities, „die nach innen ein offenes gesellschaftsmodell suggerieren, das aber nach außen durch hohe mauern und wachschutz begrenzt ist.“ Kritisch hinterfragt sie die Substanz des autonomen Subjekts – jenseits rhetorischer Floskeln wie der Adressierung des Arbeitslosen als Kunden.

Problematisch scheint mir, dass sie aus ihrer ideologischen Position die Unterschiede zwischen Städten wie Los Angeles und Berlin nivelliert. Können sich die Arbeitslosen in der deutschen Hauptstadt wirklich keine Fahrscheine mehr für den öffentlichen Verkehr leisten? Ist Hartz IV ausnahmslos schlecht, das Ich-AG-Konzept tatsächlich gescheitert?

Zugegeben, im Grunde ist der Umstand, wo Armut oder Ungerechtigkeit beginnt, eine Definitionsfrage und damit eine Frage der eigenen politischen Position. Und Röggla hält mit Neoliberalismuskritik und ihrer vage als links zu bezeichnenden Haltung keineswegs hinterm Berg. Sie schreibt auch nicht als Wissenschaftlerin, wiewohl sich die Essays stellenweise wie einführende stadtgeografische Überblicksdarstellungen lesen, untermischt mit populären Schlagworten und Fachtermini wie Disneyfizierung, Parallelgesellschaft oder Gentrifizierung. Nicht immer sind die verwendeten Begrifflichkeiten scharf umrissen; besonders der Katastrophenbegriff ist so heterogen gebraucht, dass eine definitorische Eingrenzung wünschenswert wäre.

Teilt man Rögglas Einschätzung, dass eine allgemeine Sehnsucht nach Katastrophenfilmen besteht, stellt sich die Frage, was diese Sehnsucht auslöst und nährt. Für sie ist das ein Derealisierungsgefühl, das Menschen befällt, die in einer theatral inszenierten Stadt leben, welche mit den realen Wohn- und Arbeitsverhältnissen nicht mehr viel zu tun hat. Könnte es nicht sein, fragt sie, dass genau diese Inszenierungsvorgänge „jenes defizit erzeugen, das unsere sehnsucht nach katastrophenfilmen auslöst? weil diese uns eine gesteigerte form von sicherheit bieten.“ Nicht näher eingegangen wird auf den möglichen Anteil der Massenmedien und die Präsenz von Stimmen, die hinter der medial gepushten „culture of fear“ ein politisches Kalkül der Regierenden vermuten, namentlich das, illegitime Gesetzesinitiativen durchzudrücken.

Was manchmal befremdet, ist Rögglas vereinnahmendes „wir“. Denn ihre Motivation ist, wie sie eingangs offen legt, persönlicher Art. Und neuartig interessant wird es eben da, wo sie „ich“ schreibt, wo sie weniger doziert, sondern ihre persönliche Sicht als Künstlerin einbringt. Für sie ist die Stadt – aufgrund der unterschiedlichen Intensitäten, Geschwindigkeiten, Geschichten, sozialen Realitäten und Widersprüche – der „ort der literatur und somit in doppelter hinsicht der ort meiner existenz. ohne ihn könnte ich nicht schreiben und nicht leben.“ Dieser persönliche Zugang erfolgt selten. An einer Stelle erwähnt sie das Potential innerstädtischer Veränderungen für das Schaffen von Künstlern, bringt aber keine Beispiele.

Die Essays bleiben insgesamt stark im Abstrakten. Wer sich spezifische poetologische Positionen und künstlerische Perspektiven erhofft, wird darin nicht fündig; wer an einem allgemein gehaltenen Überblick über Stadt- und Sozialentwicklung mit interessanten Zusammenschauen und ideologischer Tendenz interessiert ist, den erwartet hingegen eine sehr anregende Lektüre.

disaster awareness fair. zum katastrophischen in stadt, land und film.
Graz, Wien: Literaturverlag Droschl (Essay 57), 2006.
56 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85420-711-5.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 19.09.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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