#Lyrik

dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif

Friederike Mayröcker

// Rezension von Andrea Grill

Können Verse so schnell sein wie das Denken? Welten, Blicke, Momente, Landschaften – in ein paar Sekunden jahrelang gedacht, jeder kennt das. Aber bei wem haben wir so etwas je eins zu eins gelesen? Ich fand es zum Beispiel in „Repetition EJ“ aus Friederike Mayröckers jüngstem Lyrikband: … so krank zu sehen in den Wacholderbüschen alles verweint bist/ganz in deiner Sehnsucht kontemplativ diese riesigen/Planeten habe Ähnlichkeit mit toter Tante wenn am Morgen ich/in den Spiegel schaue lachsfarbene Schatten weil/glänzende Täler zwischen mächtig ragenden/Bergen …

Mayröcker lesen heißt, über Gedankenspitzen spazieren, die zeitweilig dahinrasen wie Wellen auf einer endlosen Ideensee. Man kann sich tragen lassen (eventuell ein Surfbrett mitnehmen). Andererseits liegt da eine gastfreundliche Mine bereit, offen für jeden beherzten Wortklauber, überall glänzt Wertvolles. Was wir offeriert bekommen, ist nur das oberste Stück, doch ohne den verborgenen Unterbau wäre der sichtbare Teil unmöglich.

Das vorliegende Buch wurde zum 85. Geburtstag der Dichterin publiziert und vom Verlag dementsprechend beworben. Es umfasst alle lyrischen Texte seit Erscheinen der „Gesammelten Gedichte“ im Jahr 2004. In zwei Bänden, auf insgesamt tausendeinhundertfünfzig Seiten – knapp achthundert hat der eine, dreihundertdreiundvierzig der zweite Band – liegt jetzt also Friedericke Mayröckers bisheriges lyrisches Gesamtwerk vor.

Die zum achtzigsten Geburtstag der Dichterin erschienenen „Gesammelten Gedichte“ bekam ich zu meinem dreißigsten, der neue Band erschien kurz vor meinem fünfunddreißigsten. Ich weiß nicht, ob ich diese Gedichte anders lesen würde, wenn ich nicht wüsste, dass – mit Vorbehalt gesagt – ein Jahrhundert zu mir spricht. Und was das Jahrhundert sagt, kommt direkt aus den Nerven, Adern, dem Blutkreislauf. Geschichte und Geographie spielen in diesem poetischen Kosmos nur insoweit eine Rolle, dass immer wieder andere Dichter zur Unterstützung des Wortgerüsts herangezogen werden. Die im deutschsprachigen Raum bekanntesten darunter sind vielleicht Hölderlin und Ernst Jandl; auch Ilse Aichinger fehlt nicht. Das sie betreffende Gedicht erzählt in einem Satz eine typische Wiener Geschichte, wie nämlich ein Gedicht Aichingers in einem Kaffeehaus heimlich still und leise aus einer Zeitung gerissen wird (=gesägt, schreibt Mayröcker).

Ist „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ also typisch wienerisch? Etwas, das man respektvoll schätzt, weil jeder es schätzt, das aber nur verstehen kann, wer zumindest Österreicher ist, idealiter österreichischer Germanist?
Ich denke nicht. Bestimmt erschließen sich dem virtuosen Literaturwissenschafter, der – falls in Wien wohnend – sogar noch die Leute, denen viele der Gedichte gewidmet sind (Christel Fallenstein, Maria Gruber, Johann Holzer, Sonja Harter, Angelika Kaufmann, um nur einige zu nennen), persönlich kennt, womöglich Konnotationen, die dem Laien verborgen bleiben. Dafür kann sich der „naive“ Leser aus den verstreuten Namen, dem EJ und dem D. seine eigene spanische Wand bauen, hinter der hervorlugend man unter Umständen noch besser erahnt, was gemeint ist. Zu wissen, dass D. Deinzendorf ist und EJ Ernst Jandl, ist keinesfalls Vorraussetzung für ein Begreifen dieser Gedichte.

Hier geht es nicht um Wissen. Hier geht es ums Gespür.
Die Essenz von Erlebtem, was im Nachhinein übrig bleibt, ist (sogar für Mathematiker, glaube ich) die Stimmung, eine Atmosphäre. Sie kann diffus sein, wie hinter einem Dunstschleier, aber auch präzis, durch den Feldstecher der Zeit in Fokus gebracht. Diejenige, die uns hier das Handgelenk hält, damit wir beim Schauen nicht zittern, ist eine, die weiß, was es mit der Zeit auf sich hat. …weil das Jahr ich meine die Schritte des Jahrs die immer/mehr sich beschleunigenden Schritte des Jahrs: Innenräume/des Jahrs sich VERKNOSPEN , heißt es im titelgebenden Gedicht, verfasst am 20.11. 2008.

„Atmosphäre“ nennt man auch die Dunsthülle der Erde. Worte sind oft klüger als das, was gesagt wird. „Atmosphäre“ ist ein Wort, das in den meisten europäischen Sprachen nicht nur die die Erde umhüllende Luftschicht meint, sondern auch die Gemütslage, den kollektiven Seelenzustand aller Anwesenden. In der Beschreibung von Seelenzuständen bringt Mayröcker es zur Meisterschaft. …habe/den Duft das Gefühl die Buchtungen unserer Körper die Blattgewächse/in einem Bouquet : ich seh keine Blumen die Nacht des Geschriebenen/während …
Das Überraschende stellt sich unter anderem durch Assoziationen ein, die in – ist das wienerisch? – bewährter Tradition mit Gleichklängen spielen. In blauen Elfen klingt das Echo einer Uhr, die elf schlägt. Den Lesenden aber bringt das Gedicht mit dem schlichten Titel „für Marcel Beyer“ zum Räsonieren darüber, wie ein Dichter vom langwierigen Torkeln zwischen Tisch und Buchstaben unversehens zum Schreiben kommt. Der Text verabschiedet sich mit Handkuss: sagte er cheese statt tschüsz, die August Blousons also/am Morgen.

Über die Zeit gesprochen. In den „Gesammelten Gedichten“ waren die einzelnen Gedichte noch nicht datiert, hier sind sie manchmal sogar mit der Stunde, in der sie geschrieben wurden, 5 Uhr früh, jedenfalls aber mit einem Datum versehen. Ob das einer liebevollen Assistentin zu verdanken ist, ob die Autorin selber auf einmal das Gefühl hatte, festhalten zu wollen, wann was entstand, oder sich einfach der Verlag plötzlich entschied, die Texte in dieser Weise herauszugeben, weiß ich nicht. Für mich ist die Datierung ein Gewinn. Das Produktionsdatum macht nachdrücklich, in welchen Zeitabständen die Gedankenspitzen an die Oberfläche kamen.
Wer den im Frühjahr 2009 erschienenen „Scardanelli“-Band schon kennt, hat jetzt die Möglichkeit, die vierzig Hölderlin-Gedichte noch einmal „ungesiebt“ zu genießen, eingepasst in die Choreographie des Entstehens.

Ob es um den Nachruf an 1 gestorbene Amaryllis Blüte geht oder ein Lob des verwelkten Apfels, jeder der beschriebenen Momente wirkt einzigartig und gleichzeitig erkennbar. Man verzeiht Mayröcker alles. der Wald hat geschäumt, einer Windstille gleich, sie darf das schreiben. Warum sie das darf, hat meiner Ansicht nach mit der Dringlichkeit zu tun, mit der jede Zeile geschrieben ist. Und mit dem Vertrauen in die Dinge, die Lebewesen, die Sprache – da kann man mir widersprechen, weil zum Dichten soviel Misstrauen in die Sprache dazugehören muss – aber aus all diesen Texten, seien sie noch so traurig, spricht Vertrauen, …mit einem Auge/hab ich mich verlesen verloren an diese Schönheit habe/Sehnsucht habe Zuflucht nach allen Menschen.

Immer wieder wird Freunden und Bekannten, Lebenden wie Toten gedacht, mit der Gabe, ein Menschenleben in ein paar Zeilen zu fassen, ohne es zu reduzieren, die stürzenden Schwimmer Wen-/delin Schmidt-Dengler nützte jede freie Minute, um im russischen/Wörterbuch zu lesen, zu studieren, er lernt russische Vokabeln aus-/wendig (…) immer in Eile, trägt 1 braune Aktentasche, ich sehe ihn hinkend in der Taubstummengasse, nach 1 Rundfunkaufnahme –/wir begraben ihn am 18. September (…) ich stürze beinahe ins offene Grab …

In herrlichem Widerspruch zu aller Dramatik kommt das Schalkhafte nicht zu kurz. Friederike Mayröcker stiehlt den Leuten das Beste aus dem Mund und lässt es sich auf der eigenen Zunge zergehen, kl. Hundegeschmack an der Hand (taste of/doggie along my hand) usw. Sie macht, was wir (Schriftsteller) alle machen möchten: ab und zu einfach usw. schreiben zum Beispiel. Weil sie es kann. Standfest hält sie sich an ihre eigene(n) Maxime(n): ein Gedicht zu machen ohne die geringste Erregung ist am unheiligsten wie morsches Holz.
Und sie ist unglaublich modern und unglaublich jung. Manches aus ihren Texten wäre mir, ins Englische übertragen und gesungen, durchaus als Schwarm der Popjugend vorstellbar. Ich wage eine gewagte Übersetzung aus dem lockeren Handgelenk: do you want to take the old fishes to/Southern Crete, he said, then, to the friends and/we wanted to see the sea. Heart of the mountain and as far as heaven rules while the bloody sun the bloody horizon … her song had stunned me etc. and I …

(Beginn des Gedichts E.J.: wollt ihr die alten Fische mitnehmen nach/Südkreta, sagte er, damals, den Freunden, wir/wollten ans Meer. Herz des Berges und bis ins Himmelreich während die blutige Sonne der blutige/Horizont …ihr Gesang hatte mich betäubt usw. und ich …)

Was will man einem Buch vorwerfen, das so deutlich spüren lässt, warum es geschrieben werden musste, und in dem es so großartige Schöpfungen gibt wie,
die Markise der/Sinne nämlich wie ich umarme dieses Lebendigseindürfen diesen/Mietling Gottes: mich

Friederike Mayröcker dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif
Gedichte 2004-2009.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.
356 S.; geb.
ISBN 978-3-518-42106-2.

Rezension vom 10.03.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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