#Prosa

Die Welt auf meiner Haut

Claudia Bitter

// Rezension von Armin Baumgartner

Der Titel von Claudia Bitters Erzählband Die Welt auf meiner Haut klingt so fantasievoll und poetisch, dass er die zurücknehmende, schlichte, jedoch an Eleganz nicht sparende Aufmachung des Buchs beinahe konterkariert. Geschickt komponiert die Autorin acht eigenständige Erzählungen, die jede für sich eine ganz eigene Atmosphäre zu verbreiten vermögen, zu einem kohärenten Ganzen. Dies ist nicht bloß dem jeweiligen Inhalt geschuldet, sondern auch den unterschiedlich intonierten Sprachrhythmen und Stilelementen. Die einzelnen Titel wiederum legen eine vage Spur, verstören bisweilen und können als eigenständige Skulpturen aus Schrift wahrgenommen werden. – „Kirtag, kugelrot“, „Die Geräusche der Geräte“, „Die Angst auf dem Tisch“ oder „Wir weinen Steine“ seien hier genannt.

 

Der Verlag beschreibt Bitters meist namenlose, also völlig anonymisierte Figuren, die im Kopf der oder des Lesenden zu sprechen beginnen, als verstört und entfremdet. Schon im ersten Text „Seeherz, Bergangst“ wird klar, dass es vor allem gebrochene Menschen sind, denen Claudia Bitter eine Stimme verleiht: „(…) verwundert bin ich heute noch, wenn ich jemanden sagen höre: Ich liebe die Berge. Die Berge und meine abstehenden Ohren waren es, was ich als Kind gar nicht gemocht habe, gehasst habe sogar.“ Hier erinnert sich eine Frau an ihre Kindheit in den Bergen und vor allem an ihre damaligen Ängste in einer Art Lamento. In ständigen Wiederholungen beklagt sie die Schmach, die ihr die abstehenden Ohren und ihre Angst vor den Bergen eingebracht hat. Damit macht Bitter klar, dass es für eine gebrochene Persönlichkeit nicht unbedingt körperliche Gewalt braucht. Einzig der Bergsee scheint der Frau ein Gefühl der Geborgenheit geben zu können: „Ich spüre das Herz des Sees schlagen. Ich bin eine gute Bewacherin.“ (S. 10)

In „Kirtag, kugelrot“ berichtet – wieder – eine Frau von einem besonderen Kirtagserlebnis in einer Sprache, die die Perspektive des Kindes, die gezwungenermaßen den Ausgangspunkt jeglicher Erinnerung an diese Zeit darstellt, deutlich macht. Da sind die Rot-Blau-Stifte aus der Volksschule, da ist das jungen Mädchen so eigene romantische Interesse an Pferden, das sie mit ihrer Freundin in der Hauptschule entwickelt, und dann kommt der Kirtag, bei dem sie im Dosenschießen gewinnt, für das sie ihren letzten Heller gibt: eine dunkelrote Kugel aus Glas, die zum Symbol für den Verlust der Kindheit wird.

„Gehen und Stehen“ versetzt uns in eine geheimnisvolle, fabrikartige oder haftähnliche Welt vollkommen gleichgeschalteter, in die Welt geworfener Wesen, ist die unmittelbare Beschreibung einer im Jetzt erlebten seltsamen Welt, in der niemand weiß, was er tut, doch alle tun offenbar etwas und dies immer „auf die gleiche Art“. Nicht einmal die Position des Erzählers, das „Wir“, ist imstande, sich zu individualisieren. Der Verdacht liegt kurzzeitig nahe, es handle sich um Kinder, da sich im Umkleideraum an jedem Haken ein Bildchen befindet, doch die Wesen hängen ihre blauen Arbeitsmäntel daran, und die Bildchen, sie sind alle gleich: „die Ameise, wir wissen, dass dieses Tier ein Insekt ist und es Ameise heißt, wir wissen nicht, ob dieses Insekt in Wirklichkeit auch so klein oder groß ist wie auf dem Bildchen.“ (S. 17) Man wird bestraft, sobald man sich aus dem Gleichklang löst. Die Wesen sind zum Gehen da, es gibt keine Zukunftsperspektive, es gibt in der ewigen Wiederholung keine Erinnerung, kein Individuum. „Wir können nicht schreien. (…) Wir sind alle auf die gleiche Art stumm, wie die Ameisen auf den Bildchen.“ (S. 24)

In die Kunst der Abstraktion verführt uns Bitter mit dem Text „Die Geräusche der Geräte“. Auch in dieser Erzählung ist es wieder ein Kind, das zu uns spricht. Doch es scheint vollkommen alleingelassen in der Wohnung, in der alltägliche Geräusche wie das Läuten des Weckers, des Telefons, das Knacken der Wählscheibe, das Klicken der Lichtschalter, das Andrehen des Fernsehers in der Wahrnehmung der Erzählerin leichtfüßig ihrer Funktion enthoben werden. Durch ihre redundante Benennung erklingen die Gegenstände, als hörte man eine CD mit Aufnahmen von Geräuschen für die Synchronisation von Filmen. Und auch inhaltlich wird das Normative zum Abstraktum: Die Protagonistin erwacht eines Tages und gerät in der ihr so vertrauten Kindheitsumgebung in Panik, da elementare Orientierungspunkte nicht mehr da sind. Sie sucht die Mutter, die Fernbedienung, das Telefon, nichts ist wie gewohnt an seinem Platz, und niemand macht Frühstück und schickt sie zur Schule. Man könnte dies wieder als Verlust der Kindheit interpretieren, doch die Autorin entwirft hier vielmehr ein fiktives Szenario, in dem nichts mehr so ist, wie es gestern noch war. Der Verlust des Alltags gerät zum Albtraum. Die Verzweiflung der Protagonistin wird in dem sich bis ins Finale steigernden Sprachrhythmus hautnah erlebbar.

Bitter versteht es auch vorzüglich, gesellschaftliche Mechanismen durch das Herunterbrechen der Sprache auf das Wesentliche ad absurdum zu führen. In „Die Anderen“ kreiert die Autorin seltsame Wesen in einer seltsamen Stadt, in der die „Einen“ ein ganz normales bürgerliches Leben führen und die „Anderen“ in einem von der Stadt isolierten Lager darben. Niemand darf mit ihnen in Berührung kommen, sonst verfärbt sich die Haut und der Kontakt mit ihnen wird für alle sichtbar. Kafkaeske Gestalten sind diese „Anderen“, die unter strenger Bewachung in Uniformen sinnlosen Tätigkeiten nachgehen müssen. Bis eines Tages die Protagonistin einen der „Anderen“ bei sich aufnimmt und einen revolutionären Plan ausheckt. Bitter schabt so lange an den Chimären des gesellschaftlich Normativen, wie es Fernando Pessoa nennt, bis nur noch das Skelett übrig bleibt, und dekuvriert somit kulturelle Muster und deren Sinnlosigkeit.

In „Die Angst auf dem Tisch“ nimmt Bitter die Lesenden mit auf eine wahre Geisterbahnfahrt durch die Gedankenwelt einer offenbar alleinstehenden Frau, die den Besuch der Familie plant und versucht, an alles zu denken und dabei nichts zu vergessen. Penibel eruiert die Frau mögliche Fehlerquellen, die das Familientreffen beeinträchtigen könnten, und trachtet danach, sie von vornherein auszuschließen. Doch je länger und intensiver sie mit den Vorbereitungen beschäftigt ist, desto klarer wird, dass der Besuch allein von ihr selbst ersonnen wurde, dass niemand kommt, dass diese Frau vereinsamt ist, womöglich in einem Altenheim lebt und sich die intakte Familie herbeihalluziniert: „Ich habe das Kochen für die Familienmitglieder am Sonntag gut im Griff. (…) Gleich werde ich das Läuten an der Wohnungstür hören. Dann werden sie alle auf einmal in die Wohnung kommen, und ich werde ihnen sagen, dass das Essen schon am Tisch stehe und dass sie nur rasch die Mäntel und Jacken ablegen und sich an den Tisch setzen sollen.“ (S. 84) Mit Bedacht setzt Claudia Bitter ihre Worte und erzeugt virtuos mit dem Rhythmus ihrer Sprache und dem Tempo die dem Inhalt angemessene Atmosphäre. „Ich schließe die Augen und spüre meine dünnen Hände, niemand in der ganzen Familie hat so dünne Hände.“ (S. 91)

Die letzte Erzählung trägt den Titel „Wir weinen Steine“. In einem Land, das grau ist, dessen Landschaft grau ist sowie der Himmel, die Wiesen, Steine und so weiter, leben die ebenso grauen älteren Blauschürzen und die jüngeren Rotröcke. Frauengestalten sind es wieder, die von einer unbekannten Macht bedroht werden, die sich bei Strafandrohung gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen, die vollkommen sinnentleert zu sein scheinen, die sich von der Sonne ernähren. Bitter entwirft ein utopisch anmutendes Szenario und durchsetzt es mit poetischen Bildern. Die Rotröcke bauen unaufhörlich Mauern, Tag für Tag: „Wir wohnen in Mauernischen gedrängt. (…) Unsere Augen senken sich immer weiter in ihre Höhlen zurück, unsere Tränen sind Steine, die uns schmerzhaft aus den Augen kullern, wir sammeln sie (…) und bauen einen Steinhaufen, und aus den Steinhaufen bauen wir Mauern.“ Durch diese sinnlose Tätigkeit des Mauerbauens und durch ihre Fertigkeit darin entwickeln diese Frauen einen Stolz, vielleicht den einzigen Stolz, den sie haben und der sie von den Fremden unterscheidet: „Die Fremden sind nicht wie wir, sie können keine Steine weinen, keine Mauern bauen. Wir sind etwas viel Besseres als sie.“

Claudia Bitter ist mit Die Welt auf meiner Haut ein herrlich unaufgeregtes, minutiös gearbeitetes und kunstvoll gefertigtes Buch gelungen, das man jederzeit gern aufschlägt, um sich in traumartige, fantastische Szenen verführen zu lassen, die den Alltag ringsum ausblenden. In ihren Parabeln erzählt Bitter von Machtstrukturen und gesellschaftlichen Zwängen in unseren Erwartungen leicht entrückten Szenarien. Durch die poetische Schieflage in der Wahrnehmung enttarnt die Autorin diese Strukturen und legt deren Skelette – und somit deren Funktionsweise – minutiös frei. Durch ihre unmittelbare Sprache lässt uns Bitter die Schicksale ihrer traurigen Figuren und die trostlose Welt, in der sie vegetieren, hautnah miterleben.

Claudia Bitter Die Welt auf meiner Haut
Erzählungen.
Wien: Klever, 2013.
100 S.; geb.
ISBN 978-3-902665-63-8.

Rezension vom 05.11.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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