Aber von vorne. Ähnlich wie in seinem ersten Buch verlegt der Autor, der im wahren Leben Asylrechtsberater ist, auch hier diese brandheiße Frage in den Flüchtlingskontext. Der junge Journalist Uwe Tinnermans nimmt sich der Proteste junger pakistanischer Demonstrant/innen an, die nach dem Tod eines Mitstreiters entflammt sind. Ausgerechnet am Wiener Minoritenplatz hat die kleine Gruppe ihr Zelt installiert, das gemeinsam mit der nebenan stehenden Kirche auch einer der zentralen Schauplätze ist. Tinnermans gelingt ein Schnappschuss einer jungen Frau mit Blut im Gesicht, im Nu wird dieser im Netz viral und die Frau namens Veena Shahida zum Aushängeschild der protestierenden Flüchtlinge. Was jedoch nicht ganz im Sinne von deren Anwältin Birgit Toth ist. Denn für die anstehende Anhörung zur Aufenthaltsbewilligung diene ihr das Bild eines „armen Hascherls“ um einiges mehr als das einer aufmüpfigen Demonstrantin. Im daraus entstehenden Konflikt lässt Zipel nun alle drei Parteien aufeinanderprallen: Veena Shahida, die Presse und die Justiz liefern sich in der Folge einen erbitterten Kampf um Perspektiven und Wahrheit.
Gibt es mehr als eine Wahrheit? Zipfel spielt dabei auch mit den Leser/innen ein geschicktes Verwirrspiel. Bereits am Anfang lässt sich erahnen, dass es in dieser Geschichte nicht bloß bei einem Erzähler bleiben wird. Atemlos geben sich in den einzelnen, häppchenweise servierten Kapiteln die unterschiedlichen Personen die Klinke in die Hand. Dass diesen nicht grundsätzlich geglaubt werden muss, dämmert einem spätestens beim Auftritt der Anwältin Birgit Toth, die, nomen est omen, nicht mehr lange zu leben hat und ihre verbleibenden Wochen schon im Kalender abgezählt hat. Regelmäßig führt Toth Gespräche mit ihrem verstorbenen Mentor, und immer dann, wenn sie im Kosmos dieser kleinen Welt zwischen Redaktion, Kanzlei und Minoritenplatz auftaucht, darf grundlegend am Wahrheitsgehalt des Erzählten gezweifelt werden. Im Laufe des Romans wird das immer weiter auf die Spitze getrieben. Wem darf geglaubt werden? Eine mögliche Antwort wäre vielleicht: Allen ein bisschen. Perspektiven sind so relativ wie die Absichten der Erzählenden, könnte ein Fazit dieses Buches sein. Eine wunderbare Verbildlichung dessen ist der grün-blaue Schal, den Veena auf besagtem Foto trägt. Zunächst wird dieser noch als blau beschreiben, dann aber wieder als grün, die Aufklärung folgt sogleich: Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen und die Farbe des Tuches im Auge des Betrachters.
Im Auge der Leser/innen hingegen entscheidet sich, wie dieses Aufeinandertreffen der einzelnen Personen zu beurteilen ist. Deutlich stellt der Autor dar, wie divergent die Interessen von Presse, Anwältin und protestierenden Pakistanern im Grunde sind. Wenn Tinnermans Chefredakteur Brandt etwa der Anwältin Toth erklärt, dass die Zeitung nichts anderes will, als die komplexe Welt auf einfache Geschichten herunterzubrechen. Oder wenn der Richter die Demonstrantin Veena bei ihrer Anhörung immer wieder unterbricht, weil diese statt Fakten aufzuzählen lieber ihre Lebensgeschichte aufs Tapet bringt. Dann stellt sich nämlich auch die alles einscheidende Frage: Darf die Flüchlingsthematik emotional ausgeschlachtet werden? Oder kann sie, ganz im Sinne der Anwältin, nüchtern und taktisch behandelt werden?
Nahezu performativ und ganz im Krimi-Duktus erzählt Daniel Zipfel den Fall der Veena Shahida, der, wäre er nicht erfunden, ohne Weiteres wahr sein könnte. Ein mit Dialogen gespickter Roman, dem auf seinen unzähligen Ebenen zu folgen manchmal eine Herausforderung sein kann. Zipfel bedient sich einmal mehr seiner beruflich bedingten Erfahrung und führt vor Augen, inwiefern die Sprache die Wahrnehmung solcher Diskurse formt.
Dieses Buch wird seine Aktualität nicht so schnell verlieren!