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Die Voest-Kinder

Elisabeth Reichart

// Rezension von Helmut Sturm

Die Voest, der bedeutendste Industriebetrieb Österreichs, ist, wir wissen es, aus den Hermann Göring Stahlwerken hervorgegangen. Die Geschichte dieses Werkes ist und wird wegen seiner Bedeutung von Historikern erforscht. Auch die Literatur hat sich des Themas angenommen.

So erzählt etwa Rosemarie Marschner in Das Bücherzimmer, was der Bau des Hüttenwerks auf dem Gebiet des Dorfes St. Peter/Zitzlau und die erzwungene Industrialisierung für die Menschen in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bedeutet hat. Nun breitet Elisabeth Reichart in Die Voest-Kinder eine Welt aus, wie sie sich in der Sicht eines Kindes der fünfziger Jahre zeigt. Uns Leserinnen wird dabei ein expressives, beeindruckendes Bild vor Augen gestellt, das, sprachlich souverän gearbeitet, einen Erfahrungsraum eröffnet, der alles andere als nur lokal interessant ist. Die Voest-Kinder sind kein Buch ausschließlich für Lokalpatrioten. Die namenlose Familie aus Großmutter, Großvater, Mutter, Vater, Tochter und adoptiertem Sohn erhebt implizit den Anspruch, mehr als bloß ein Einzelschicksal zu sein. Es geht der gebürtigen Oberösterreicherin Reichart ums Ganze.

Der Roman ist die Geschichte eines hochbegabten Kindes, das in einer Welt lebt, die bestimmt ist durch vielfältige Entbehrungen und eine wirtschaftliche Entwicklung, als deren Mitläufer der Vater zuletzt in Afrika (er ist dort Bauleiter) verloren geht. Großeltern und Eltern sind gezeichnet von den Traumatisierungen der beiden Weltkriege und dennoch lebt das Kind zunächst in einer Kindheit voller Zauber. Da gibt es den Himmel, Musik, Tanz, den Kirchenchor und Baldo, den verständigen Hund der Großeltern. „Der Vater des Kindes war bei der Freiwilligen Feuerwehr und der Musikkapelle, aber vor allem war er ein Voestler.“ Aus der Geborgenheit der zumindest in der Phantasie des Mädchens intakten ländlichen Idylle, die Reicharts Geburtsort Steyregg entspricht, zieht die Familie in eine Voest-Siedlung in der Nähe der Traun. Die Männer sind im Werk oder auf Montage, die Frauen leben im Keller bei ihren Waschmaschinen und Einweckgläsern. Die Kinder sind weitgehend sich selbst überlassen, sind verlassen und dennoch unter dem Einfluss der verwundeten Elterngeneration. Reichart gelingt es, sichtbar zu machen, dass das Erbe der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts tief in den Alltag hineinreicht und das Leben und die Mentalität der Menschen bestimmt. „Es gibt ja fast nur noch Verrückte seit diesem schrecklichen Krieg!“

Das Kind lernt Zaubersprüche, verbotene Worte und eine frühreife Schulfreundin kennen, die jammert: „Ich hätte so gerne im Keller gelebt wie alle Frauen! Jetzt muss ich arbeiten gehen! Ich will Schmuck und einen Mann!“ Das Verhältnis Mann – Frau wird immer wieder angesprochen. Frauenemanzipation gibt es in der Siedlung nicht. Dafür verwahrloste Jugendliche, Rassismus, jede Menge Vorurteile. Der Auszug aus dem Paradies der frühen Kindheit ist schmerzhaft. Das Mädchen begegnet Krankheit und Tod. Und geht in eine Schule, die bei all dem nicht weiter hilft. Nicht einmal das Lesen, das ihr bald langweilig wird: „Alle Mädchen in den Büchern waren dumm, alle Buben erlebten die tollsten Abenteuer.“

Das Mädchen macht sich Gedanken über den Unterschied zwischen erzählen und schreiben und malt schließlich schwarze Bilder, die auch andere Kinder in ihrer Klasse interessant finden, „und die Farbenblindheit wurde zu einer ansteckenden Krankheit“. Reichert führt in kräftigen Farben vor, wie eine schwarze Pädagogik die Welt der Kinder dunkel macht. Der Lichtblick im Leben des Mädchens ist die religiös wunderbar begabte Großmutter, die sich „ein Leben, das nicht zu Gott will, gar nicht vorstellen“ kann und nach einer Auseinandersetzung mit einem rassistischen Pfarrer jeden Schritt in die Kirche vermeidet. Diese Großmutter entlarvt die anscheinend so realistischen Reden und Karrierewünsche der Männer als „Einbildung“. Sie ist es auch, die der Enkelin das Versprechen abnimmt, dass sie ihr eigenes Leben leben wird und sich nur selbst gehört.

Die Autorin ist davon überzeugt, dass in einer globalisierten Welt selbst das Erwachsenwerden nicht mehr individuell bleibt. In einem Interwiew erklärt sie: „Die Kinder waren alle einsam, sie fühlten sich alle verloren, das haben sie geteilt, wenn ihre Väter irgendwo auf Baustellen gearbeitet haben.“ Das gilt auch für die hochbegabte Namenlose in Die Voest-Kinder. Der Roman, und das macht ihn spannend, enthält viel Dichtung und viel Wahrheit. Die gelernte Historikerin Reichart hat über die Voest gründlich recherchiert und dann eine Geschichte geschrieben, aus der Historiker manches lernen könnten. Die Wahrheit der Dichtung kann sehr anregend sein.

Die Voest-Kinder.
Roman.
Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag, 2011.
301 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7013-1187-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 09.11.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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