#Prosa

Die versprengten Deutschen

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Ivette Löcker

Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer.

Was ist von den letzten Deutschen im Osten geblieben? Dieser Frage geht der Salzburger Autor und Essayist Karl-Markus Gauß in seinem neuen Buch Die versprengten Deutschen nach und richtet seinen Blick erneut auf Gegenden im östlichen Europa, die lange Zeit außerhalb eines literarischen wie politisch-historischen Interesses lagen. Für die drei Reportagen hat sich der Autor auf Spurensuche in Litauen, in der Zips in der Ostslowakei und im Schwarzmeergebiet der Ukraine gemacht.

Die erste Suche führt nach Litauen, wo man als erstes erfährt, wie zerstritten die Deutschen miteinander sind; eine Erfahrung, die Gauß auch an den anderen Orten mit den Deutschen machen wird. Mit liebevollem Einfühlungsvermögen, manchmal auch mit einer Portion Ironie, porträtiert Gauß die Angehörigen der unterschiedlichen deutschen Gruppen. In den Gesprächen mit ihnen entfalten sich nach und nach die oft tragischen Schicksale der Einzelnen, die der Autor immer in die historischen Zusammenhänge einbettet. Er schärft so unsere Wahrnehmung für die komplexe Geschichte, die das gegenwärtige – durchaus konfliktreiche – Zusammenleben der Menschen bestimmt.
Wir hören von den Wolfskindern, jenen Kindern, die im Winter 1944 auf der Flucht aus Ostpreußen ihre Eltern verloren und von litauischen Familien aufgenommen wurden. Viele haben erst vor wenigen Jahren von ihrer deutschen Herkunft erfahren und sich auf die Suche nach ihren deutschen Familien gemacht. Selten kam es dabei zu einem glücklichen Wiedersehen.
Die zweite Gruppe bilden die Litauendeutschen, die im Mittelalter, wie die Juden, im Osten nach einer neuen Lebensgrundlage suchten.
Die dritte Gruppe sind die Rußlanddeutschen, die unter Katharina der Großen im Russischen Reich angesiedelt wurden, und die vierte die Memelländer, die als einzige über eine Art regionaler Identität verfügen. Das Memelland war immer ein Teil Preußens gewesen, „in dem sich eine Art schwebendes Volkstum herausgebildet hatte, eine zweisprachige preußisch-litauische Kultur, in der die Zugehörigkeit zur litauischen oder zur deutschen Nationalität nicht exklusiv war, sondern in einer Familie von Generation zu Generation oder gar von Anlaß zu Anlaß wechseln konnte.“ Gegen den aufstrebenden Nationalismus im 19. Jahrhundert konnte sich das ’schwebende Volkstum‘, als kosmopolitischer Gegenpol, nicht behaupten. Ihre Schicksale zeigen auf, wie Anpassung, Unterdrückung, Vertreibung, Zwangsdeportation und Auslöschung zum fast vollständigen Verschwinden der Deutschen geführt haben. Und die, die noch übrig sind, beteiligen sich an „diesem litauischen Karussel: Wer hat mehr gelitten, wer hat größeren Ruhm als Opfer verdient? Was uns weiterhelfen könnte, wäre allein die Wahrheit, also historische Arbeit, und dann die Bereitschaft der Leute, sich der historischen Wahrheit auch zu stellen“, wie es Emanuelis Zingeris, Leiter des „Hauses der Toleranz“ in Vilnius ausdrückt.

Die Prozesse des Verschwindens begegnen Gauß auch in der Zips, die die Gegend von Hopgarten bis Smolnik umfasst, an der Grenze zu den Ruthenen und Ukrainern im Osten der Slowakei. Die Deutschen, die in der Zips leben, sind die Nachkommen von Siedlern, die seit dem 12. Jahrhundert aus Sachsen und Schlesien, Franken und Flandern eingewandert sind, um als Bergarbeiter, Bauern und Händler zu arbeiten. Der Begriff „Karpatendeutsche“, unter dem die Deutschen in der Slowakei zusammengefasst werden, wird der unterschiedlichen Herkunft nicht gerecht. Die Siedlungsgeschichte ist viel komplexer (hier nur als Stichworte: Habsburger Monarchie und ungarischer Nationalismus Ende des 19. Jahrhunderts) und so verwundert es nicht, dass sie auch hier miteinander streiten, wer deutsch ist, und das, ohne immer der deutschen Sprache mächtig zu sein. Die oft skurril bis absurd anmutenden Begegnungen machen deutlich, wie sehr es sich um Phänomene des Untergangs handelt: das Deutsche Gymnasium in Poprad besuchen vor allem die Kinder reicher Slowaken, die damit deren Zukunft in Europa gesichert sehen; der deutsche Chor in Schmöllnitz besteht vorwiegend aus ukrainischen Sängern.

Die Spurensuche in der Ukraine führt nach Odessa und in die ehemaligen deutschen Kolonien am Schwarzen Meer, wo sich die Spuren wohl am stärksten verwischt haben. Deutsche findet Gauß im Dorf Elsaß, eine Stunde von Odessa entfernt, vor allem auf dem Friedhof. Aus der ehemaligen deutschen Kirche ist mittlerweile ein Karaoke-Club geworden, nachdem sie unter den Sowjets als Turnhalle gedient hatte. Die Deutschen, die er trifft, sind vor allem Rußlanddeutsche, deren Eltern und Großeltern unter Stalin aus der Ukraine nach Zentralasien deportiert worden sind. Die Nachkommen versuchen nun, sich auf ihre Wurzeln besinnend und auf eine bessere Wendung in ihrem Leben hoffend, den Ausreiseantrag nach Deutschland zu stellen. Die Bundesrepublik hingegen investiert Millionen, um diese Menschen in der Ukraine zu halten und hat ganze Siedlungen für sie in die Steppe gestellt: für viele die Endstation und nicht der Neubeginn.

Karl-Markus Gauß Die versprengten Deutschen
Reisejournal.
Mit Fotografien von Kurt Kaindl.
Wien: Zsolnay, 2005.
235 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-552-05354-9.

Rezension vom 14.09.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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