#Roman

Die Vermessung der Welt

Daniel Kehlmann

// Rezension von Christine Rigler

Der Starkult treibt seltsame Blüten. Von seiner spöttischen Seite zeigt er sich etwa, wenn berühmte Personen, von denen man sonst bis zur Perfektion retuschierte Fotos zu sehen bekommt, aus dem Hinterhalt fotografiert werden und die Bilder dann mit hämischen Kommentaren veröffentlicht werden: Julia Roberts in alten Schlapfen, dreckigen Jeans, ungeschminkt und grantig. Die Freude der Betrachter, den unerreichbaren Star entblößt – vermenschlicht – zu sehen, ist ein zwar nachvollziehbarer, aber auch kleinlicher Impuls.

Etwas Ähnliches treibt Daniel Kehlmann in seinem Roman Die Vermessung der Welt mit Genies der deutschen Geistesgeschichte – im Bereich des Intellekts also, wo Minderwertigkeitskomplexe ebenso ausgeprägt sind wie im Hinblick auf Reichtum und Schönheit. Er zeigt die einstige Avantgarde des Wissens als Abstrusitätenkabinett und schreckt dabei vor platten Klischees nicht zurück: Die geistigen Errungenschaften seiner Figuren, die realen Personen nachempfunden sind, lässt Kehlmann weitgehend unangetastet und entblößt sie in bezug auf körperliche oder psychisch-soziale Defekte (für die es vermutlich historische Quellen gibt). Genau hier ist auch der Witz des Romans angesiedelt. Man staunt nicht über die Werke des Physikers Georg Friedrich Lichtenberg, sondern über sein Aussehen eines buckligen Fleischklumpens. Nicht die Philosophie Immanuel Kants steht zur Debatte, sondern seine zwergenhafte Erscheinung und mangelnde Gastfreundschaft. Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß quält als ungehobelter Tyrann ohne jeglichen Charme seine Mitmenschen. Der Naturforscher Alexander von Humboldt erschrickt beim Anblick nackter Frauen, weil er schwul und für leibliche Genüsse generell unzugänglich ist und Erfahrung nur in Form von empirischer Erkenntnis zulässt. Die Begegnung mit seinem Reisebegleiter Aimé Bonpland verdankt sich einer reinen Ungeschicklichkeit: Humboldt tritt diesem beim Verlassen eines Gebäudes unabsichtlich auf die Hand. In derartigen Szenen scheint Kehlmann überhaupt eine ergiebige Quelle der Erheiterung zu sehen: dass geschichtsträchtige Momente so banal sein können.

Aus der Gegensätzlichkeit der zentralen Charaktere Gauß (1777-1855) und Humboldt (1769-1859) entwickelt sich die Struktur des Romans, der zum allergrößten Teil in zwei getrennten Handlungssträngen erzählt wird. Der weltgewandte Aristokrat Humboldt wird auf Anraten Goethes systematisch zum Universalgelehrten erzogen, gilt jedoch in der Familie im Vergleich zu seinem älteren Bruder Wilhelm als der Unbegabtere. Kehlmann hebt vor allem einen Wesenszug hervor – seine Sucht alle Naturerscheinungen zu vermessen – und führt sie vor allem auf ein psychologisches Motiv zurück, nämlich auf das Unbehagen an der Unordnung. Im Vordergrund des Romans steht vor allem Humboldts abenteuerliche Expedition ins südliche Amerika, deren Reiseberichte der Eichborn Verlag 2004 in einem Band neu auflegte.

Während nun der unerschütterliche Humboldt mit einem gewaltigen Arsenal von Instrumenten den amerikanischen Kontinent durchquert, empfindet der Mathematiker Gauß schon jede kleinere Reise innerhalb Deutschlands als unerhörte Zumutung. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und verdankt seine Karriere der Geistesgegenwart eines Lehrers. Während Humboldt seine Forschungsreisen aus Privatvermögen finanziert, ist Gauß auf Anstellungen angewiesen, um seine Familie zu ernähren. Im Gegensatz zum selbstdisziplinierten Humboldt ist er wehleidig und ängstlich. Diesen Gauß, dessen Leben so gar nichts Schillerndes hat, stattet Kehlmann mit einer prophetischen Gabe aus, indem er ihn Erfindungen späterer Zeiten voraussehen oder besser herbeisehnen lässt. Mit der Vorstellung, dass irgendwann die Narkose erfunden sein wird oder Gaslaternen die Straßen erleuchten werden, legt er Gauß das Wissen heutiger Leser in den Mund, verschiebt Perspektiven und bringt gewisse Problematiken des historischen Stoffs zur Sprache.

Die Zusammenführung dieser beiden Biografien konzentriert sich auf eine einzige unspektakuläre Begegnung bei einem Naturforscherkongress in Berlin (der 1828 tatsächlich stattfand). Die weltfremden Geistesgrößen geraten in die unangenehme politische Wirklichkeit, nachdem Gauß‘ Sohn dort als Revolutionär verhaftet wird und Humboldt seinen Einfluss geltend macht, um das Schlimmste zu verhindern.

Kehlmann erfüllt die historischen Figuren nicht naiv mit Leben. Er reflektiert das Genre des historischen Romans und die deutsche Bildungstradition. Diese Reflexion erstarrt allerdings im Gestus einer humoristischen Darstellung, die über die Länge des Romans kaum variiert, sondern vordergründig durchexerziert wird. Wissenschaft und Philosophie sind weniger Thema als Hintergrund – das Erhabene und Bedeutsame, das die Karikatur als Kontrast braucht, um ihre Wirkung zu entfalten.

Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Roman.
Reinbek: Rowohlt, 2005.
303 S.; geb.
ISBN 3-498-03528-2.

Rezension vom 09.01.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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