#Prosa

Die Unversöhnten

Thomas Ballhausen

// Rezension von Sabine E. Dengscherz (Selzer)

Das Ungeheuer ist einsam. Und traurig. Findet sich selbst monströs und gefährlich. Und möchte doch nichts als leben. Samt all seinen bösen Erinnerungen. Antike Mythologie und neuzeitliche Endzeitstimmung verbinden sich in Thomas Ballhausens Erzählung Die Unversöhnten zu einer düsteren Underground-Welt. Protagonist ist der Stier-Mensch Asterios, besser bekannt als Minotauros oder Minotaurus: „Mein Name ist nicht Minotaurus, aber alle nannten mich so. … Ein Name, der wie ein Siegel auf meiner harten, aber nicht unverletzlichen Haut brennt.“

Das Ungeheuer hat Gefühle. Strebt nach Glück und Normalität. In vier Hauptkapiteln und vielen Unterparagraphen. Vergebens. „Man hält mich inzwischen wie ein trauriges, tödliches Haustier, das man bei unangenehmen Gelegenheiten hervorholt, damit es den kleinen Garten vor dem hübschen Häuschen von den Eindringlingen befreit.“ Die Umwelt nimmt, was sie brauchen kann, vom dunklen Rest will sie nichts wissen. Selbst Dankbarkeit währt nicht ewig. Irgendwann geht dann auch eine Lebensgerettete wieder ihrer eigenen Wege, kein Happy End erwartet die Schöne und das Biest.

Des mythologischen Asterios-Minotaurus Leben ist von Anfang an geprägt von Enttäuschung und Verrat: Sein Stiefvater Minos ist einer der drei Adoptivsöhne des kretischen Königs Asterios. Nach dessen Tod kann er mit Hilfe Poseidons den Erbfolgestreit für sich entscheiden. Der Gott des Meeres schickt ihm einen wundervollen Opferstier, Minos besteigt den Thron von Kreta – und behält den Stier. Das Tier ist so prächtig, dass er es nicht übers Herz bringt, es zu opfern. Die Strafe der Götter lässt nicht lange auf sich warten: Minos‘ Gemahlin, die Heliostochter Pasiphaë, entflammt in animalischer Liebe und lässt sich von Daidalos eine Holzkuh konstruieren, in der sie sich vom Prachtbullen besteigen lassen kann. Die Verbindung bleibt nicht ohne Folgen. Pasiphaë bringt ein Ungeheuer zur Welt, einen Sohn mit Menschenleib und Stierkopf: Minotauros, manchmal auch Asterios genannt.

Unversöhnt gedenkt Ballhausens Asterios seiner Mutter, sie ist schuld an seiner Monstrosität, an seinem verpfuschten Leben. Ihr verdankt er sein Dasein, seine pure Existenz, Mutterliebe hat er nicht gekannt, kein warmes Nest, sein Leben ist ein kaltes Labyrinth, in dem sogar er selbst sich verirrt. Er leidet für ihre Lust. Und lässt andere für die seine leiden.
Auch wenn er seine Bestialität im Griff hat, kultiviert hat. Ihr nur nachgibt, wenn es gar nicht anders geht. Sich der Gesellschaft angepasst hat wie ein moderner Vampir, der von Blutkonserven lebt. Meistens. Erfüllung findet er in dieser Welt aber keine: „Ich kann nichts außer Tanzen und Töten.“

Kaum hat das Monster das Licht der Welt erblickt, wird in der griechischen Sage Daidalos erneut beauftragt. Er baut für Minos ein unterirdisches Labyrinth. Dort wird der Minotaurus versteckt. Man schämt sich des Bastards. Möglichst weit weg von seinen Halbgeschwistern Katreus, Deukalion, Glaukos, Androgos, Akakalis, Ariadne, Phädra und Xenodike fristet er ein Leben im Dunkeln. Von Anfang an.

Kein Wunder, dass Asterios auch der „schreckliche, unbarmherzige Lehrer“ Daidalos bzw. Daedalus unversöhnt bleibt. Der Ingenieur, dem nichts zu schwer ist, der jede Herausforderung annimmt. Er verfolgt Asterios bis in die apokalyptische Gegenwart, „gibt es doch immer Bedarf nach der neuesten Technik, den neuesten Errungenschaften einer gefährlichen Kunst, die man nicht zu beherrschen vermag, die einem zunehmend entgleitet.“

Ohne Daidalos wäre Minotauros nicht geboren worden, ohne ihn wäre er nicht in das Labyrinth verbannt worden, in die banlieue des Königshofes, und Daidalos ist schließlich auch noch für seinen Tod verantwortlich. Schließlich war er es, der Ariadne in das Geheimnis des Fadens einweihte, mit dessen Hilfe schließlich Theseus wieder aus dem Labyrinth herausfand, nachdem er Minotauros getötet hatte.
Nun hat auch Ariadne ihren Halbbruder verraten. Die Liebe zu Theseus war stärker als die Geschwisterliebe, die sie mit dem Ungeheuer verband. Doch auch Ariadne wird nicht glücklich mit ihrem Verrat. Sie flieht mit Theseus, aber der erwidert ihre Liebe nicht und lässt sie alleine auf Naxos zurück.

Bei Ballhausen irrt Asterios durch meist nächtliche Großstadtlabyrinthe, erhält kryptische Aufträge per Post und streift durch die Regalreihen verlassener Bibliotheken. Er arbeitet intuitiv und er liest intuitiv und er sucht intuitiv nach Normalität, die er aber nicht findet, auch wenn er sich immer weiter von seiner Herkunft entfernt. Es kostet auch Prostituierte noch Überwindung, mit ihm zu verkehren.
Bei alldem träumt er von einem vermeintlich reinen Geist, von schwesterlicher Liebe, von der fernen Ariadne. Unversöhnt bleibt auch die Sehnsucht.
Und das Leben ist ein Labyrinth: „Fleisch und Stein sind gleichermaßen Fallen.“

Thomas Ballhausen Die Unversöhnten
Erzählung.
Innsbruck, Bozen, Wien: Skarabaeus, 2007.
99 S.; brosch.
ISBN 978-3-7082-3195-2.

Rezension vom 02.10.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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