#Roman
#Prosa

Die Unsichtbaren

Otto Tremetzberger

// Rezension von Eva Maria Stöckler

Du sollst K. anrufen!

Wer ist K.? K. ist ein Freund. K. ist sein Freund. K. liegt im Krankenhaus. K. wurde verprügelt. K. hatte einen Unfall. K. verlässt das Krankenhaus. K. ist verschwunden. K. wird wiedergefunden. Im Spiegel.

Otto Tremetzbergers Roman Die Unsichtbaren umkreist ein Thema, das in verschiedenen Varianten in zahlreichen Romanen immer wieder auftaucht: Die Unmöglichkeit, sich in der Welt zurechtzufinden, die Unmöglichkeit, sich selbst als Ich zu definieren, das Zerfallen des Ich, das seit Ernst Mach und Hermann Bahr als unrettbar betrachtet wird, als eine durch eine langsame Änderung der Persönlichkeit hervorgerufene Täuschung, eine Konstruktion unterschiedlicher, veränderlicher Elemente, die ebenso schnell in ihre Einzelteile zerfallen können, wie die Welt in viele Einzelteile zerfällt. Einzelteile, die nicht mehr zusammengesetzt werden können, sondern unverbunden nebeneinander liegen, wie Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Manchmal spiegeln sich kleine Ausschnitte in den Scherben, manchmal nicht. „Alles ist wahr. Nichts ist wahr“ (S. 188).

Das Ich ist in diesem Fall ein Erzähler, Mitarbeiter eines internationalen Konzerns, dem wie Lord Chandos die Fähigkeit langsam abhanden kommt, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. So nimmt er sich selbst als jemand wahr, der irgendwie nicht in diese Welt passt. „Im Spiegel, das bin also ich.“ (S. 9). Er führt ein unspektakuläres Leben, geht ins Büro, trifft sich mit Kollegen, seiner Freundin, der Schauspielerin Anna, erinnert sich an Begebenheiten aus seiner Vergangenheit. Erste Brüche tauchen auf, immer öfter scheint er Dinge zu verwechseln, Menschen zu verwechseln, Wichtiges vermischt sich mit Unwichtigem. „Die ganze Unterhaltung schien mir wie ein Traum.“ (S. 32).

Dann jene Botschaft, die den Zerfallsprozess beschleunigt: „Du sollst K. anrufen!“ (S. 41). Die kurze Notiz seines Arbeitskollegen Paul wird zum Ausgangspunkt vielfältiger Reflexionen, bei denen er nicht mehr unterscheiden kann, was wahr und was falsch ist. Wie ein Schauspieler in einem Film erlebt er sich selbst in einer Welt, die er nicht versteht. Er verwechselt Menschen, Gesichter, betrachtet alles „durch einen Filter hindurch“ (S. 70), hat den Eindruck, dass ein Regisseur aus seiner Vergangenheit, den er nicht mag, sein Leben inszeniert, in das er nicht mehr eingreifen kann. Denn aus diesem Grund – „Mein Leben war mir schließlich wie eine Fälschung vorgekommen.“ (S. 97) – hat er damals das Theater verlassen und den Job gewechselt.

Der Ich Erzähler ruft an und erfährt, das sich K. im Krankenhaus seiner Heimatstadt befindet. Er fährt dorthin, besucht ihn. Was wirklich geschehen ist, bleibt unklar. War es ein Unfall, eine Prügelei, ein Überfall? Während er mit K. spricht, entgleitet ihm dieser immer mehr. K. möchte verreisen, sein Leben neu ordnen. Der Ich Erzähler kann ihn kaum mehr wahrnehmen, hält ihn für unsichtbar. Um nicht nachts nach Hause fahren zu müssen, erhält er von K. die Schlüssel für dessen Wohnung, in der der Ich Erzähler weiter seinen Gedanken nachhängt. „Dass man in jedem Augenblick ebenso der eine wie ein anderer sein könnte. Man müsste sich bloß entscheiden oder etwas tun!“ (S. 135) Die Wohnung kommt ihm allerdings seltsam vor, vertraut und völlig fremd zugleich. „Mir ist, als käme ich nach Hause, in eine Wohnung, in der ich schon lange nicht mehr lebe, eine andere Stadt ….“ (S. 141) Der kinderlose K. hat Kindermöbel und Spielzeug, aber das sind Imitate, Theaterrequisiten. Was ist wahr?

Als er wieder ins Krankenhaus zurückkehrt, bemerkt er, dass K. verschwunden ist. Allerdings macht er die Bekanntschaft mit seinem Zimmergenossen, dem Kranfahrer Hans, der ihn zu einer Schachpartie bittet, die den Ich Erzähler mehr und mehr in ein kafkaeskes Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und anonymer Mächte zieht. K., das ist auch Josef K. oder der Landvermesser K. Ebenso wie in Kafkas Romanfragmenten erfährt man über diesen K. nicht allzuviel: Der frühere Hausbesetzer und ehemalige Häftling raucht billige Zigaretten, die er nach dem Ausdämpfen in seine Hosentasche schiebt, seine Schuhe trägt er falsch herum und seine Wohnung ist voller Staub und Gerümpel. Sein Verschwinden überrascht dann kaum, das Unsichtbarwerden war auch ein Traum des Erzählers: „Als Kind habe ich mir vorgestellt, man könnte durch Wände gehen, einfach so, wenn man nur wollte, aber aus Angst, in der Mauer steckenzubleiben, habe ich es nie getan.“ (S. 120) Am Ende wird aus Kafkas Welt das Wunderland, bevölkert von Spielfiguren und einem weißen Hasen. Der Spiegel, ein Werkzeug, um sich selbst betrachten zu können, lässt den Menschen verschwinden. K. taucht nicht mehr auf, der Erzähler findet ihn nicht mehr. Was er findet, ist im Spiegel …

Die Unsichtbaren.
Roman.
Innsbruck: Limbus Verlag, 2016.
224 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99039-087-0.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 13.12.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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