#Sachbuch

Die unerhörten Töchter

Silvia Kronberger

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl / Christine Schmidjell

Das Zielpublikum von Silvia Kronbergers Buch ist nicht genau auszumachen. GermanistInnen scheinen es primär nicht zu sein. Anders als der Untertitel erwarten ließe, nimmt die tatsächliche Beschäftigung mit den beiden Frauengestalten nur einen eher bescheidenen Raum ein, nämlich jeweils knapp dreißig Seiten. Der große Hauptteil des Buches sind referierende Zusammenfassungen zu zwei Themenstellungen: zu Hysteriekonzepten vom Mittelalter bis zum poststrukturalistischen Diskurs und zur Disposition des Weiblichen um 1900. Da sich die Autorin im wesentlichen auf die Wiedergabe der verschiedenen Positionen im historischen Ablauf konzentriert, ist der Band als informative Überblicksdarstellung gut zu verwenden. Neues wird man dabei wenig finden, und das gilt nicht nur für das Pflichtkapitel „Arthur Schnitzler und Sigmund Freud“.

Etwas problematischer sind die beiden „Zentralkapitel“ zu Arthur Schnitzlers Novelle von 1923 und Hugo von Hofmannsthals Tragödie aus dem Jahr 1903. In einem fünfseitigen abschließenden Blick auf „Else und Elektra“ fasst die Autorin ihre Thesen zusammen. Schnitzler beschreibe die Genese der Hysterie und ihre gesellschaftlichen Bedingungen, Hofmannsthal den Anfall mit dem Blick der Gesellschaft auf die Hysterikerin. Beiden Frauenfiguren gemeinsam sei, dass die vorgegebenen weiblichen Rollenbilder für sie ebenso problematisch geworden sind wie die Beziehung zum Vater, dessen Begehren sie zugleich stützen und zurückweisen; „es ‚inzestelt'“ (S. 241), so Kronberger. Einen väterlichen Missbrauch sieht die Autorin allenfalls als latent gegeben und nicht weiter diskutierenswert.

Das ist vor allem für „Fräulein Else“ schade, insofern die Schnitzler-Forschung beschämenderweise bis ins Jahr 1998 gebraucht hat, um diese Frage erstmals an den Text selbst zu stellen. In diesem Jahr erschien ein Aufsatz von Astrid Lange-Kirchheim, der erstmals schlüssig nachwies, dass die Frage latenten oder realen Missbrauchs Elses durch den Vater zumindest keinesweg so eindeutig zu klären ist, wie bis dato fraglos angenommen. Dass Kronberger diese und andere entscheidende Arbeiten der Sekundärliteratur – gerade auch literaturwissenschaftliche Relektüren aus feministischer Sicht – nicht gelesen hat, ist auch dem unter germanistischer Fragestellung eher spärlichen Literaturverzeichnis zu entnehmen. Einiges daran ist verwunderlich, etwa wenn mehrere Arbeiten Elisabeth Bronfens erwähnt und im Text auch ausführlich referiert werden, die konkrete Untersuchung Bronfens zu Schnitzlers Novelle aber offenbar nicht wahrgenommen wurde. (Armin-Thomas Bühlers Arbeit von 1995 wird im Text zwar zwei Mal erwähnt, im Literaturverzeichnis aber nicht angeführt.)

In einer persönlichen Vorbemerkung berichtet die Autorin, dass die während der Arbeit an dem vorliegenden Buch in Anspruch genommene Supervision ihre persönliche Beziehung zu ihrer Mutter verändert habe. Das könnte als Hinweis verstanden werden, dass die Intention der Autorin stärker in Richtung eines (therapeutisch verstandenen) Angebots zu Frauen-Selbstverständigung und Rollendebatte geht. Zweifellos eine ebenso legitime Wirkungsintention wie ein literaturwissenschaftlicher Diskussionsbeitrag.

Silvia Kronberger Die unerhörten Töchter
Fräulein Else und Elektra und die gesellschaftliche Funktion der Hysterie.
Innsbruck, Wien, München, Bozen: StudienVerlag, 2002.
292 S.; brosch.
ISBN 3-7065-1478-8.

Rezension vom 11.09.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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