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Die Tiere von Paris

Margit Schreiner

// Rezension von Claudia Peer

„Du schreibst auf einem Brett, das du von einer Baustelle mitgenommen hast, im Bett sitzend, während dein Mann an seinem Schreibtisch arbeitet.“ (S. 8)

Das ist der Anfang. In Paris. In einem kleinen Zimmer, in welchem die zwei Verliebten freiberuflich wissenschaftlich arbeiten. Sie über die Stadtgeographie mitsamt den Tieren von Paris, er über einen fiktiven Kreis deutsch-französischer Schriftsteller in einem literarischen Salon im Paris der Jahrhundertwende. Die Hierarchie ist von Anfang an angezeigt. Sie hätte nur hinsehen müssen. Du hättest nur hinsehen müssen. Die Du-Form, die im gesamten Buch Anwendung findet, ist nicht nur ein origineller Kunstgriff. Die Du-Form zeigt die Austauschbarkeit dieser Frau auf: Es kann auch dich treffen – oder sitzt der Stachel sogar noch im Fleisch?

Der Mann gesteht, dass er kürzlich Vater geworden ist. Er hat sie ein Jahr zuvor betrogen. Sie will nicht kleinlich sein und denkt nicht an Trennung, da er schließlich, wie er beteuert, diese andere Frau nicht geliebt, sondern sie ihn reingelegt habe. Als sie selbst schwanger wird, ziehen sie nach Wien. Er schreibt über Wiener literarische Salons. Das Baby ist ein Mädchen. Sie übernimmt zuerst die Babypflege und muss aufhören zu arbeiten. Er vertröstet sie auf später. Doch die Arbeitsteilung, die ihr so wichtig wäre, findet auch später nicht bzw. nicht so statt, dass sie ihr etwas bringen würde.

Je weniger Bestätigung sie bekommt, je weniger sie wissenschaftlich publiziert, desto stärker sinkt ihr Selbstwertgefühl. Seine Ansicht, dass sie unflexibel, zerstreut und verkrampft sei, übernimmt bald auch sie selbst. Und doch sagt ihr ein Funken Angst, dass sie am Ball bleiben muss. Sie arbeitet kraftlos in den Morgen- und Abendstunden. Ein Buchprojekt wird von ihrem Verlag angenommen. Bei der Tagesmutter der Tochter lernen sie Elsa und ihre Mutter Lisa kennen. Die Frauen holen die Kinder abwechselnd von der Tagesmutter ab und können somit an ihrer Berufstätigkeit basteln. Mittlerweile haben die Eheleute getrennte Meinungen und Schlafzimmer. Obwohl schon 39, würde sie noch ein zweites Kind in Betracht ziehen, doch nicht mit diesem Mann. Sie wird zu einem Geographenkongress nach Tokio eingeladen, wo sie Marcella Schmidt di Friedberg kennen lernt, die – trotz ihres Namens – einzige nicht erfundene Person in diesem Roman. Sie ist Professorin an der Universität Mailand und lädt sie später ein, bei einem hoch dotierten Projekt über römische Wanderwege in Italien mitzuarbeiten. Das könnte die Chance sein, dem Mann unaufdringlich zu entkommen. Doch dieser wittert ein schönes Leben für sich und will mit. Kurz vor dem Umzug stirbt ihre Mutter. Zu diesem Thema hat Schreiner 2003 ein grandioses Buch unter dem Titel Heißt lieben veröffentlicht.

Margit Schreiner bleibt ihren Themen treu. Unaufgeregt, aber beharrlich schreibt sie an gegen die Unterdrückung und Kleinhaltung der Frauen und Mütter in allen Gesellschaftsbereichen. Die Macht im Privaten wird immer schon von der Macht im Öffentlichen durchdrungen – und umgekehrt. Die Sieger siegen überall. Oder kämpfen zumindest an gegen die Konkurrenz der Frauen, die in allen Lebensbereichen vermutet wird. Ja, manchmal ist es auch umgekehrt. Aber die Siegerinnen in solchen Konstellationen sind immer noch spärlich und auf der Hut, um nichts zu provozieren.

Die Sprache von Margit Schreiner wird nicht zufällig als „leise“ wahrgenommen. Dennoch verliert sie nie an Leichtigkeit – weil etwas Wesentliches immer mit dabei ist: der Humor. Ihre Protagonistinnen haben gelernt, mit männlicher Gewalt umzugehen, sie sind diplomatisch, zurückhaltend, taktisch klug. Was hier die Frau vor und nach der Scheidung leistet, ist genau das: Die Kluft zwischen allen patchworkend Beteiligten zu überbrücken, eigene negative Emotionen zurückzuhalten zugunsten der Tochter, die sich selbst ein Bild machen soll. Sie ist neben Frau und Mutter also auch Sozialarbeiterin, Psychologin und Schauspielerin. Und vor allem Mediatorin und Managerin von Kind, Ex-Mann, Freund, Halbschwester der Tochter, Freundin des Mannes und von jenem sozialen Netz, das der Alleinerziehenden den Berufsalltag erleichtert, ja zum Teil sogar erst ermöglicht.

Sie wird von ihm beschimpft mit: „Egoistin“, „Egomanin“, „Rabenmutter“, „Schlampe“, „Hure.“ Dennoch ist sie bemüht, dem Vater sein Kind trotz seiner cholerischen Ausbrüche immer wieder zu überlassen. Sie verzichtet auf Hochmut und Zynismus, obwohl oder gerade weil sie über höhere emotionale Intelligenz verfügt als er. Schreiner ist eine Könnerin der Beschreibung des Drahtseilaktes, sich ein neues Leben nach einer Scheidung aufzubauen, ohne das vorherige, aus Respekt vor dem Kind, schlecht zu machen und hinter sich zu lassen. Aber das ist nicht alles. Wie nebenbei, gekonnt und ohne direkt Kritik zu üben berührt Schreiner gesellschaftspolitische Themen wie Kinder- und Jugendbetreuung, Kinder- und Jugendfürsorge, Sorgerecht, Stellung von Alleinerziehenden, Wohnungsmarkt, Jugendarbeitslosigkeit, Krankenversicherung, Pensionssystem, soziale und ethnische Ungerechtigkeit, Neoliberalismus – eine vollständige Aufzählung wäre lang.

Vor diesem Hintergrund präsentiert die Autorin am Ende des Buches ein finsteres Szenario: Die namenlos bleibende Tochter spielt in ihrer Schule die Barblin aus Max Frischs Andorra, die dem Wahnsinn verfällt, weil sie den Kampf zwischen zwei Völkern, Lüge, Hass und Aggression nicht aushalten kann. Am sechsten Tag der Aufführung ist die Tochter spurlos verschwunden.

Die Tiere von Paris.
Roman.
Frankfurt am Main: Schöffling & Co, 2011.
192 Seiten, gebunden.
ISBN 978 978-3-89561-279-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 01.09.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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