#Roman

Die Tauben von Brünn

Bettina Balàka

// Rezension von Beatrice Simonsen

Ungemein findig bettet Bettina Balàka die historische Figur des Johann Karl (von) Sothen (1823–1881), seines Zeichens Bankier und „Lotteriebaron“ des Wiener Biedermeier, in ein Geflecht aus realer Zeitgeschichte und möglichen Vorkommnissen ein. Die bekannt vielseitige Autorin greift in ihrem neuen Roman wieder einmal einen spannenden historischen Stoff auf, den sie beinahe kriminalistisch entwickelt und rund um eine (wahrscheinlich fiktive) Hauptfigur – die junge Taubenzüchterin Berta Hüttler – anordnet.

Im Wechsel zwischen auktorialer und Ich-Perspektive (aus der Sicht von Berta) ersteht die Wiener Innenstadt des 19. Jahrhunderts rund um Schottenbastei und Stephansdom lebhaft vor unseren Augen wieder. Spür- und riechbar werden das Gassengewirr und die Mansarde geschildert, in der Berta als Kind nicht gerade wohlhabender, aber doch tüchtiger Eltern aufwächst. Mutter und Vater – von dem das Mädchen das Handwerk des Taubenzüchtens lernt – sterben früh an „Skrofulose“, Berta und ihrem Bruder Eduard droht das Waisenhaus … wäre da nicht der kaum ältere Nachbarssohn Johann Karl Sothen, der sich schon in jungen Jahren mit Spielkarten- und Losverkäufen ein kleines Vermögen erwirtschaftet hat. Er sorgt dafür, dass die beiden Kinder zur Tante nach Brünn verfrachtet werden, wo diese den Gasthof „Zum Goldenen Ochsen“ betreibt und die Neuankömmlinge als willkommene Hilfskräfte empfängt.

Kapitelweise springt die Romanautorin zwischen den Jahren 1837 und 1881 vor und zurück, einmal ist Berta Kind, dann junge, dann ältere Frau und wieder Halbwüchsige. Auf diese Weise kommen wir einem Geheimnis auf die Spur, das die Protagonistin selbst erst nach und nach entdeckt. Dazwischen erfahren wir viel über den biedermeierlichen Alltag, über Reichtum und Armut, Glaube und Aberglaube, über Krankheiten und die abstrusen Vorstellungen von Medizinern und Heilerinnen, wie diese zu behandeln seien. Besonderen Raum nimmt das Verhältnis von Tier und Mensch ein, das zuweilen zärtlich liebevoll, meist aber zweckgebunden ist, sei es, indem der Mensch das Tier verspeist (Biberbraten und gefüllte Ziesel seien hier genannt) oder sich dieses anderweitig in Form von Zughunden, Jagdfalken oder eben Brieftauben zunutze macht. Letztere sorgen schließlich (nicht nur) für den Lebensunterhalt der Berta Hüttler.

Berta Hüttlers Beziehung zu Johann Karl Sothen, der anfangs als großmütiger Mäzen für die verarmten Nachbarskinder dargestellt wird, erfährt mehrmalige Wandlungen und zeigt alle Schattierungen zwischen Gut und Böse. Mit großer Einfühlsamkeit zeichnet die Autorin diesen Charakter, der zwar ein legendärer Selfmademan war, aber als Geizhals und Leuteschinder in die Geschichte einging. Nicht nur hatte er mächtigen Anteil am Lotteriegeschäft jener Zeit, auch erwirtschaftete er sich eine Bank, mehrere ansehnliche Wohnsitze und einen Adelstitel. Auf diese Weise hatte er nicht nur die feine Wiener Gesellschaft, sondern auch die schlecht entlohnte Arbeiterschaft fest im Griff. Der Berichterstattung über sein Begräbnis nach zu schließen, das einen Tumult auslöste, weil es von Spottliedern begleitet wurde, musste er zu den meistgehassten Personen jener Zeit gehört haben. Dass die Autorin ihm trotz allem den zarten Hauch einer edlen Seite andichtet, zeugt für ihr psychologisches Verständnis entgegen jeder einfachen Schwarz-Weiß-Malerei. Dennoch muss am Ende sogar die stets optimistische Berta – die echte oder fiktive Schwester von Eduard Hüttler, dem historisch verbürgten Mörder seines verhassten Arbeitgebers Sothen – erkennen, dass es mit dem Edelmut ihres Gönners nicht weit her war.

Erstaunlich bei allem Unbill, das Berta widerfährt, ist der entwaffnende Freimut, mit dem sie den erfreulichen wie unerfreulichen Ereignissen begegnet. Sei es, dass sie in höhere gesellschaftliche Sphären erhoben wird, um dann wieder in die unteren Regionen der verarmten Bevölkerungsschichten niedergedrückt zu werden, oder umgekehrt. Nie verliert sie den Glauben an ein selbständiges und anständiges Fortkommen. Der angeborenen Hasenscharte zum Trotz, die die junge Frau ihrer eigenen und der anderen Meinung nach zu einem hässlichen und tierhaften Geschöpf auf Gottes Erde macht, geht sie mit erhobenem Kopf und dem Herzen am rechten Fleck durchs Leben.

Bettina Balàka erzählt nicht nur unterhaltsam, sondern nebenbei auch lehrreich über die Vergangenheit Wiens, und das, was als „Sagenschatz“ weiterbesteht, erfährt direkte Anwendung beim Fortgang der Handlung. Dass über die Schilderung der sozialpolitischen Umstände und ihre kausale Verknüpfung mit dem damaligen „Lottofieber“, das Sothen zu seinem Reichtum verhalf, auch ein gutes Maß an Sozialkritik geübt wird, vergisst man beinahe über die stets freundliche Berta, die Tier und Mensch gleichermaßen scharf im Auge behält. Warum „Die Tauben von Brünn“ aber die eigentlichen Protagonistinnen des neuen Romans von Bettina Balàka sind, entschlüsselt sich erst am Ende – und sei deshalb nicht verraten.

Tipp der Redaktion:
Die Geschichte des Barons Johann Karl von Sothen war 2017 auch Stoff von Anna Elisabeth Mayers Roman „Am Himmel“ (Schöffling & Co), den Walter Fanta für unser Buchmagazin rezensiert hat.
Beide Bearbeitungen des historischen Stoffes sind äußerst lesenswert!

Bettina Balàka Die Tauben von Brünn
Roman.
Wien: Deuticke, 2019.
192 S.; geb.
ISBN 978-3-552-06399-0.

Rezension vom 30.09.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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