#Roman

die stimme über den dächern

Verena Mermer

// Rezension von Martin Kubaczek

Sie lieben sich, sie lesen Freud und Marx, sie rauchen viel, und gehen nachts spazieren, lassen eine existentialistische Boheme wieder auferstehen. Doch Mermers Figuren bewegen sich nicht durch ein Paris vor 1968, ihre Erzählung ist in Baku, der Hauptstadt der ehemaligen Sowjetrepublik Aserbeidschan angesiedelt: Vier junge Menschen, zwei Paare, stehen im Zentrum der Erzählung: Nino ist unsterblich in Ali verliebt, sie verlässt die Wohnung ihrer Eltern, zieht zu ihm in eine Wohngemeinschaft mit Che und Frida (die Anspielungen auf Frida Kahlo und Che Guevara werden später wirksam). Che ist Arzt, Frida Tänzerin und Schauspielerin, Nino unterrichtet Sprache, und Ali ist der ewige Student, träumerischer Agitator, schreibt für eine Idee von Freiheit, die vage im Raum steht.

Gehen anfangs die Leidenschaften und Beschreibungen noch auf in der Atmosphäre der kleinen Nebengassen und versteckten Hinterhöfe, der Balkone und knarrenden Treppen, so kommt zunehmend die politische Dimension ins Spiel. Zwischen vagen Hoffnungen, dem Verlorengehen in Kneipen, dem Auffliegen der Gedanken über den Dächern entwickelt der Roman seine atmosphärische Dichte. Momente von Seligkeit, so oft sie sich auch verflüchtigen, bannen die Figuren, erinnern an das orientalische Erzählen, diesen Schutzraum der Liebenden. Sie alle finden hier Unterschlupf, peripher gehören dazu auch Emin, der Verkäufer im kleine Laden um die Ecke, der zehn Jahre ältere undurchschaubare Richard, der mit den Faschisten Bier trinkt und mit den Stalinisten Tee, oder Alis älterer Bruder Fuad, der sich als homosexuell outet – ein weiteres Bedrohungsszenario wird damit thematisiert.

Das Unheil kündigt sich unvermittelt an: „es wird etwas geschehen“, sagt Ali, „ja, es wurde etwas angekündigt“, sagt Nino. (S.56) Ali und Che nehmen teil an einer Demo, Ali kehrt nicht zurück, er bleibt verschwunden: Verhaftet, gefangen gehalten ohne Kontaktmöglichkeit. Und nun gehen auch die Frauen auf die Demo, protestieren gegen Unterdrückung der Opposition und repressive Polizeigewalt, die Angst kriecht herein in den Alltag und die Erzählerin stellt die Frage: Wie verbirgt man, wie schützt man sich, wenn es wiederholt an der Tür klopft und Besuch vom KGB droht?

Hier geht es nun um die Frage: Was ist eigentlich Diktatur, wie wird sie erlebt, was bedeutet sie für die Alltagswirklichkeit? „eine rückkehr zum alltag ist sowieso nicht mehr vorstellbar, auch wenn rechnungen erlassen werden, der preis von eiern, milch und mehl gesenkt und der polizei die annahme von schmiergeldern erschwert wurde: welcher alltag?“ (S.91) Der Text antwortet mit Doppel- und Zwischenrealitäten, beharrt auf Wunsch-Imagination und Traumvorstellungen: Ali kehrt nach Wochen magisch durch den Spiegel wieder, und es ist dann doch reale Umarmung und Wieder-Vereinigung, Che, der Arzt, wird zum revolutionären Wiedergänger des legendären Guevara. Die Kapitelüberschrift „auflösungen“ bringt keine Lösungen der Probleme und Rätsel, sondern betreibt die wörtlich genommene physische Auflösung und Verflüchtigung der Figuren über den Schauplätzen. Die Wirklichkeit der Körper und Dinge befreit sich so von den Zwangs- und Angstformen der Unterwerfung, lässt sie in ihrer Sehnsucht fliegen, sie werden zu körperlosen autonomen Stimmen.

Die Verhaftungen aber, so stellt sich heraus, wurden schon am Weg zu den Demos vorgenommen, offensichtlich aufgrund abgehörter Telefonate. Kündigungen folgen, unter dem ökonomischen Druck versagt jegliches Aufbegehren. Es kommt zu Brüchen, Krisen und Umschwüngen in den Beziehungen. Nino versucht noch ihre Fassade aufrecht zu erhalten, nach einem Besuch bei ihren Eltern bricht sie zusammen. Trost bleibt in der schlichten Erfahrung von Solidarität, und nach klingt vor allem ein Wort, das zentral wurde für den Text: Azadliq – Freiheit auf aserbeidschanisch.

Die Erfahrbarkeit der fremden Phonetik, der Klang der Namen, die Aura und das kulturell Atmosphärische machen einen großen Teil des Faszinosums dieses Textes aus. Glossar und Aussprache-Hilfe am Ende betonen die aufklärende Vermittlung und politische Intention, es finden sich Hinweise auf vielerlei intertextuelle Anspielungen. Thematisch befindet sich Mermer mit ihrem Erzähl-Debut damit auf den Spuren Barbara Frischmuths, erzählerisch geht sie aber eigene Wege einer Kurzsatzprosa, die mal lapidar, mal vergnügt mit ihren Begriffen und Vorstellungen spielt. In die knappen Beschreibungen und Szenen finden sich kursiv hervorgehobene „takes“ montiert, O-Ton-Passagen, in denen die Figuren in ihrem Assoziationsstrom oder als Sprechende sichtbar werden, in Klammer werden ihre Namen daneben angeführt, eine Technik, die den Text strukturiert. Die dabei verarbeiteten politischen Erfahrungen hat die Autorin bei Arbeits-Aufenthalten vor Ort gesammelt, ihre Lesung beim Literaturwettbewerb Schloss Wartholz 2014 bewirkte Aufmerksamkeit und ein Romandebut, das Neugierde und Lust auf mehr weckt.

Cover Verena Mermer die stimme über den dächern
Roman.
Salzburg: Residenz, 2015
160 S.; geb.
ISBN 9783701716456.

Rezension vom 03.09.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.