#Essay

Die sterbenden Europäer

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Klaus Kastberger

Unterwegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen.

Beim Thema „Rand“ fällt mir als erstes Peter Handke ein. In der wunderbaren Sammlung „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ erwies sich der Kärntner Dichter schon im Jahr 1969 als ein Praktiker des Ephemeren. Unter den gesammelten Texttrümmern finden sich unsterbliche Stücke wie die pflichtgemäße und dabei ellenlange Beantwortung der Frage nach der besten Verbindung zu dem bundesdeutschen Ort Stock („Zugauskunft“) oder so profane Dinge wie „Das Rätsel vom 17. August 1968“ oder „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“. Mit der lyrischen Textmontage „Der Rand der Wörter 2“ hat Handke eine Etüde des Randes geschaffen, die zu lesen noch heute lohnt: „Wir sitzen am Rand des Feldweges und reden./Die größte Not ist lange vorbei, denn am Gletscherrand lagern die Leichen ab./Wer steht am Rand des Feldes, am Rande des Highway? – Gary Grant!“

Karl-Markus Gauß, der im Zentrum von Europa (Salzburg) eine der besten österreichischen Literaturzeitschriften („Literatur und Kritik“) herausgibt und dessen Person in den Zentren des deutschsprachigen Feuilletons zu den gefragtesten zählt, setzt sich in seinen Texten seit vielen Jahren mit einem speziellen Rand, nämlich dem Rande Europas auseinander. Dort, wo das Geld und die Kultur des Zentrums nicht mehr ganz hinreichen; dort, wo die zirkularen Flüsse versiegen oder fortan nur mehr in eine Richtung verlaufen, hält Gauß Nachschau nach einem ‚anderen‘ Europa, einem Europa der verschwindenden Volkskulturen und der Differenz, und damit auch nach einem Europa, das in den Augen dessen, der es mit seinen Augen vielleicht ein letztes Mal sieht, das eigentliche Europa ist.

Die sterbenden Europäer nennt Gauß folgerichtig seinen neuen Textband und meint mit diesem Titel durchaus nicht, daß etwa die Briten krank, die Franzosen siech und die Deutschen schon halbtot seien, nein: Das Europa des Karl-Markus Gauß stirbt von den Rändern her, vielleicht sogar in einer ähnlicher Verlaufsform, wie sie einst Peter Handke vom „Rand der Wörter“ imaginiert hatte, nämlich so, daß am Rand trockenes Laub zu brennen anfängt und die Wörter sich dann unendlich langsam in sich selbst krümmen würden.

Die Wörter des Karl-Markus Gauß tun vielleicht wirklich etwas Ähnliches. Wenn sie den europäischen Rand beschreiben, beschreiben sie eine Art Trauerrand. Fünf Regionen und fünf in ihrer Existenz gefährdete Volksgruppen hat Gauß für den neuen Band ausgewählt: Die sephardischen Juden in Sarajewo, die deutschsprachigen Gottscheer in einem ausgedehnten Waldgebiet an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien, die albanisch-stämmigen Arbëreshe im Süden Italiens, die legendenumwobenen Aromunen im Grenzgebiet von Makedonien und Griechenland (deren berühmtester Sproß der rumänische Fußballer George Hagi ist) sowie die Sorben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, „Slawen von nebenan“.

„Plötzlich, im tiefen Wald, begriff ich, daß ich mitten im Dorf stand“ – mit diesem Satz beginnt Gauß‘ Reportage über die Gottscheer und gibt damit den übrigen Texten ein Muster vor. Wie ein hungriger Tiger springt der Fremdling aus Österreich mitten in sein jeweiliges Zielgebiet, schon nach wenigen Federstrichen sind dem Leser Land und Leute präsent. Jener Jakob Finci beispielsweise, dem als Leiter des kleinen jüdischen Gemeindezentrums von Sarajewo Päpste und Präsidenten persönlich die Ehre erweisen, ein Akt, der völlig unproportional zu jener Zahl an Menschen ist, die Finci vertritt und bei den anderen, realpolitisch ungleich mächtigeren Repräsentanten der Stadt regelmäßig für Ärger sorgt. Der Wald der Gottschee, einige hundert Kilometer entfernt, hat keine Literarisierung nötig, er sieht von sich aus wie eine Gegend von Thomas Bernhard aus. So finden sich in ihm die Dörfer Verderb und Verdreng, und zu verdrängen haben die Leute dieser Gegend tatsächlich etwas. Karl-Markus Gauß rückt nur zögerlich damit heraus: „Allerdings, jetzt muß es gesagt werden: Es gab auch eine Schar junger Nationalsozialisten innerhalb der Gottscheer Volksgruppe.“ Warum auch sollten am Rand keine Nazis gewesen sein?

Dem erlebnisartigen Einstieg in die Randzonen, in denen der Autor sein erzählerisches Talent voll entfaltet, folgt im zweiten Abschnitt der Reportagen in schöner Gleichförmigkeit eine historische Erkundung der jeweiligen Räume und Minderheiten. Gauß trägt sein Wissen in einer sanften und niemals schulmeisterhaften Art vor und kehrt nach dem Abschluß der jeweiligen Lehreinheiten spielend leicht zum literarisch-feuilletonistischen Tonfall zurück. Eher angedeutet als ausgeführt finden sich die Voraussetzungen der Texte: Die Tatsache etwa, daß Gauß‘ eigene Familie aus der Wojwodina stammt und die Affinität des Autors zu den europäischen Rändern daraus eine besondere Dimension gewinnt, findet sich in eine kleine Nebenbemerkung eingestreut. „Ah, Schwaba“, geben die Leute zurück, als Gauß ihnen vor Ort kurz von seiner eigenen Geschichte erzählt.

Die stärksten Momente erwachsen dem Rand dort, wo in ihm Erscheinungen so aufblitzen, als täten sie es in der Gaußschen Berührung auch schon zum letzten Mal. Seine stärkste Konkurrenz findet der Rand im Zentrum, das – einmal auf die schönen Ränder aufmerksam gemacht – diese sogleich zu integrieren sucht. An den Sorben der Oberlausitz, angesiedelt an Orten wie Cottbus, Hoyerswerda und Bautzen zeigt sich der unabwendbare Einfluß des Fremdenverkehrs auf die Volkskultur. Der Osterritt zwischen den Gemeinden Wittichenau und Ralbitz findet in ununterbrochener Folge selbst über Kriege hinweg seit dem Jahre 1540 statt. Seit der Ritt in den Prospekten der Region vermarktet und hübsch bebildert wird, nehmen an dem Spektakel zwar immer mehr Menschen, aber immer weniger Sorben teil. Vielleicht kann man auch daraus eine Lehre ziehen. Wer die Ränder Europas noch ein kleine Weile erhalten will, macht es anders als Karl-Markus Gauß: Er bleibt zu Hause und liest dieses Buch.

Karl-Markus Gauß Die sterbenden Europäer
Textband.
Fotografien von Kurt Kaindl.
Wien: Zsolnay, 2001.
235 S.; geb.
ISBN 3-552-05158-9.

Rezension vom 29.05.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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