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#Roman

"Die späte Frau" und andere Neuerscheinungen

Friedrich Hahn

// Rezension von Sabine Schuster

Dora, die Heldin des Romans Die späte Frau, ist 67, als sie nach dem Krebstod ihrer Schwester Elvira ihre achtjährige Nichte Alice adoptiert. Schritt für Schritt beginnen die beiden ihr gemeinsames Leben in der geerbten Wohnung der Schwester. Auch eine neue Liebe scheint sich einzustellen. Dora genießt ihr spätes Glück und fühlt sich gegenüber allen Übeln dieser Welt immun. Soweit die unspektakuläre, sympathisch-empathische Kerngeschichte des neuen Friedrich-Hahn-Bandes, der soeben in der burgenländischen edition lex liszt 12 erschienen ist. Pünktlich zu Hahns 70. Geburtstag, den der umtriebige Autor aus Wien-Alsergrund unter anderem im Rahmen der Dichtermeile (23. Juni) in der Porzellangasse feiert, die er seit 27 Jahren organisiert.

Doch das war erst der Anfang: Nicht nur, dass Die späte Frau – der Untertitel Ein Romangeschichten-Roman weist schon darauf hin – aus zahlreichen kleinen Geschichten, Gedanken, Aphorismen besteht, zwischen denen die längere, homogene Erzählung von Dora so eingebettet ist, dass man sie ein Weilchen suchen muss, auch darüber hinaus gibt sich Hahn in seinem Jubiläumsjahr jugendlich-experimentierfreudig. So erscheinen 2022 insgesamt vier neue Bücher in unterschiedlichen Verlagen, etwa der Verwechslungs-Roman Peter&Peter (edition keiper), dessen Protagonist einem Doppelgänger begegnet und schließlich sein Leben mit ihm tauscht. Wie befreiend, jemand anderer zu sein, so völlig vogelfrei! Vor allem dann, wenn das eigene Leben gerade wenig zu bieten hat. Auch in der späten Frau klingt das Motiv der Verwechslung kurz an, Dora wird von einem Mann auf der Straße für eine andere gehalten, spinnt jedoch diese Geschichte nicht weiter. Wozu auch, wo sich gerade alles so gut fügt.

Weitere neue Buchtitel sind der Lyrikband welke knospen (Verlag Berger), den Hahn Ende Juni beim „Dichtfest“ der Alten Schmiede präsentiert, und ein angekündigter Roman in der Edition Roesner (siehe Abbildung). Mehrere Bücher pro Jahr sind für den Vielschreiber Friedrich Hahn keine Seltenheit und man bekommt fast den Eindruck, dass er nach seiner literarischen Nahaufhörerfahrung (Bibliothek der Provinz) im Jahr 2019 mit noch mehr Energie ans Werk geht als zuvor. Dort lesen wir:

Ich bin mit meinem Text am Ende. Der Satz klingt nach schlussendeaus. Nun. Da steht er. Ein Satz wie er lapidarer nicht sein könnte. Ich lese ihn immer und immer wieder. Und dabei mach ich mein Schriftstellergesicht. An dem muss ich auch noch arbeiten. Aber wie macht man ein Exschriftstellergesicht?

Nun aber nochmal zu Dora, der späten Frau, die uns der Autor mit folgendem Satz vorstellt: „Der Tag, an dem Dora erfuhr, dass sie mit ihren 67 Lenzen Mutter werden würde, war ein verregneter Freitag im März 2017.“ (39) Von nun an ist das Leben der Ex-Krankenschwester, die einen Ex-Mann, aber keine eigenen Kinder hat, plötzlich wieder ganz Gegenwart. Wir erleben sie auf dem Weg zu ihrem monatlichen „Schnepfentreffen“ mit den Ex-Kolleginnen aus dem Krankenhaus im Extrazimmer einer Konditorei, aus dem sie auch gleich wieder flüchtet. Zu viel „Ex“, so scheint es, obwohl die passionierte Leserin Dora den Vorsilben durchaus etwas abgewinnen kann. Sie konstruiert etwa ganze Gedankenwelten mit der Vorsilbe VER:

VERreisen, VERwegen, VERschwören, VERblüfft. Fast zu jedem VERwort fiel ihr eine Geschichte ein. (…) Was aber passt zu einer Siebenundsechzigjährigen, einer 67-jährigen pensionierten Krankenschwester? VERzagt (?), VERzetteln (?), VERgraben (?), VERarmt (?), VERausgabt (?), VERbissen (?). (41)

Friedrich Hahn schlüpft als Autor sehr überzeugend in die Perspektive einer lebensklugen älteren Frau, die sich ebenso verantwortungsvoll wie neugierig einer großen Aufgabe stellt und ihren letzten Lebensabschnitt Schritt für Schritt in einen Neuanfang verwandelt. Es ist spät, aber nicht ZU spät für das Leben und die Liebe, eins ergibt das andere, mit dem Kind kommt eine Katze, mit der Katze ein Liebhaber, vielleicht sogar ein neuer Partner.

Vom betulichen Rentnerdasein sind Hahns Romanfiguren ähnlich weit entfernt wie der Autor selbst: Sie sind streitbar, manchmal boshaft, aber auch (selbst)ironisch und humorvoll – auf jeden Fall voller Leben. So wie viele der Bücher, die Friedrich Hahn im Lauf der Jahre geschrieben hat. Es sind schon deutlich über vierzig, darunter immer wieder auch Lyrikbände mit einprägsamen Titeln, neben deinen Fußnoten mein alter Schuh hieß einer aus den letzten Jahren – eine Zeile, die als zärtlich-ironisches Bild im Gedächtnis hängen blieb.

Liebe und Trennung, Wärme und Kälte, Gefühle und Wahrnehmungen, Lebenslust und Rückzug sind von Anfang an bestimmende Pole in Friedrich Hahns Schreiben: Buchtitel wie schnee, sein Buchdebüt im Jahr 1978, die kältefalle (1979), kopfstimmen (1981), innig getrennt (1989), klare bilder, wirre texte (1991), vom ausland der gefühle (1992), Ohren in Ruhestellung (2000) oder Neuherz (2002) lesen sich im Überblick wie ein poetisches Programm, dessen roter Faden das Leben selbst mit seinen wechselnden Herausforderungen ist.

Friedrich Hahn Die späte Frau und andere Romangeschichten
Ein Romangeschichten-Roman.
Oberwart: edition lex liszt, 2022.
142 S.; brosch.
ISBN 978-3-99016-220-0.

Friedrich Hahn Peter&Peter
Namen tun nichts zur Sache.
Graz: edition keiper, 2022.
140 S.; geb.
ISBN 978-3-903322-60-8.

Friedrich Hahn welke knospen
neun gedichte und kleine prosa.
Horn: Verlag Berger, 2022.
96 S.; brosch.
ISBN 978-3-85028-989-4.

Friedrich Hahn Jegliche Personen, jegliche Ähnlichkeiten und jegliche Handlung
Enzersdorf: Edition Roesner, 2022.
116 S.; geb.
ISBN 978-3-9505217-8-8.

Rezension vom 20.05.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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