Die Erzählung des 17jährigen Johann Nepomuk Müller ist für Menschen, die sich diese Welt als eine heile malen, eine Zumutung. C. W. Aigner, der einem seiner hochgerühmten Lyrikbände („Landsolo“) voransetzt „Weshalb anklagen? Ich bin froh, / daß ich diese Welt sehen darf.“, entwickelt um den fußballspielenden Gymnasiasten eine Story, die von brutaler Gewalt gekennzeichnet ist. Eine Gewalt, die genau aufgespürt und präzise beschrieben ist und in ihrer Unmenschlichkeit kein Wegschauen oder Weghören erlaubt. Schwer zu ertragen, und gerade deshalb ist dies wohl ein notwendiges Buch für uns Zeitungs- und Krimileser, Sportfans und Computerspieler.
In Deutschland sterben jede Woche zwei Kinder an den Folgen von Misshandlungen, weltweit laut UNICEF 50 000 jährlich. C.W. Aigner macht diese alltägliche Gewalt zum Thema. Was sie in der Familie bedeutet, weiß Johann Nepomuk genau. Exzessive körperliche Gewaltanwendungen des Vaters und rücksichtsloser Psychoterror der Mutter sind in der kleinbürgerlichen Familie Johann Nepomuks Startkapital. Nachdem der Vater davonläuft, muss der Sohn die Mutter und sich durch Hilfsarbeiten und Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Die Arbeit auf der untersten Stufe der Hierarchie ist auch nicht gerade idyllisch. Derbe Scherze, Gefühllosigkeit, Neid und Ausbeutung kommen zur Sprache. Dass die Schule nicht heil ist, kennen wir von Musil, Torberg, Julie Zeh und aus eigener Erfahrung. Das faire Fußballspiel wird überzeugend dekonstruiert. Schließlich hat die strukturelle Gewalt eine Geschichte, Johann Nepomuk durchschaut die Geschichtsklitterung der Mutter, wird erschüttert von den verschwiegenen Bildern der Shoa.
Der 17jährige kommt nach und nach zu einem Bewusstsein dieser Unerträglichkeit, durch die Bekanntschaft mit Mariella, die er nach dem Abendtraining vor einer versuchten Vergewaltigung bewahrt hat. Durch die um einige Jahre Ältere, die nach einem Verbrechen an den Rollstuhl gebunden ist, lernt er die Liebe kennen und wird davon nicht blind, sondern sehend. Wie in einer Welt überleben, deren gewalttätige Realität immer mehr in ihrer Menschenverachtung durchschaubar wird? Von Mariella, deren Mutter das KZ Bergen-Belsen nur um einige Jahre überlebt hat, erfährt er vom „Buch Esther“. Eine Sammlung handschriftlicher Gedichte ihres Vaters an die Mutter, die dieser das Überleben im KZ ermöglichten. So entdeckt Johann Nepomuk nach und nach den Wert der Poesie als (Über-)Lebensmittel. Knapp zwanzig Gedichte sind so in den Roman eingefügt, dass sie (wie bei Sophokles in den berühmten Zeilen am Anfang der „Antigone“ angedeutet) die bösartige Gewalttätigkeit des Menschen durch gewaltige Schönheit konterkarieren. Die behutsame Einführung in die Welt der Poesie verändert den Schüler, der als begabter Zeichner für die Welt der Kunst zugänglich ist. Wie C. W. Aigner die Gedichte verwendet und von seinem Ich-Erzähler interpretieren lässt, ist nicht nur für Deutschlehrer interessant, sondern eignet sich für hartnäckige Lyrikverweigerer durchaus als Einstiegsdroge.
In welcher Weise erzählt C. W. Aigner von seinem Glauben an Liebe und Poesie als Gegenmodell zum Terror omnipräsenter nackter Gewalt? Johanns Jargon nimmt Anleihen bei der Sprache der oberösterreichischen Provinz (stark gemildert für den überregionalen Verkauf) und gibt sich salopp und altersgemäß. Dabei handelt es sich freilich um eine Kunstsprache, der allerdings alles Gestelzte und Verharmlosende „pannoramamäßig an der Hüfte vorbeigeht“. Da sind viel Witz und frischer Humor, die den jugendlichen Überschwang für breite Leserschichten anziehend machen. Manche Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von sprachlicher Virtuosität.
In der Fortsetzung der oben erwähnten Verse zum Band „Landsolo“ stellt C. W. Aigner auch die Frage, ob er, um die Welt wahrzunehmen, Bilder erfindet oder findet. Im Kontext von „Die schönen bitteren Wochen des Johann Nepomuk“ bedeutet das: Gibt es für das Romangeschehen eine reale Vorlage, oder handelt es sich dabei um bloße Fiktion? Für ortskundige sind Bezüge auf die Stadt Wels klar auszumachen, Ortsbeschreibungen verweisen auf existente Schauplätze, ähnliche Namen sind im Telefonbuch zu finden, Brigitte Schwens-Harrant hat Bezüge zur neueren Stadtgeschichte aufgezeigt. Aber freilich geht es nicht um die kleine Provinzstadt mit der internationalen Messe, sondern um die Conditio Humana, die neben Schurkentum, Unterdrückung und Menschenverachtung auch Liebe, Schönheit und den Glauben daran kennt.