Zum einen natürlich, weil jedes Leben, egal wie es verbracht wird, wert ist erzählt zu werden. Es stellt sich lediglich die Frage, wem das Erzählte zugänglich gemacht werden soll: einer breiten Öffentlichkeit oder im privaten Rahmen. Im Falle einer Autobiografie der oben genannten Frau würde man nicht an eine Veröffentlichung für alle denken. Und doch bleibt das Gefühl, dieses Leben habe eine Relevanz für die Öffentlichkeit. Nämlich dann, wenn es als Beispiel für viele andere Menschen, die Ähnliches erlebt haben, steht. Wie also nähert man sich am besten solch einem speziellen Fall?
Renate Welsh entschied sich für die Romanbiografie. Dieses Genre ließ ihr Freiheiten in der Umsetzung und gab ihr die Möglichkeit sich in ein Leben zu vertiefen, das nicht in Archiven dokumentiert ist. So konnte sie unproblematisch Wissenslücken schließen und in Rosas Gefühlswelt eindringen, konnte die Objektivität der Biografin (zumindest die angestrebte, denn jede Biografie hat auch etwas mit der Person zu tun, die sie verfasst) verlassen und ein subjektives Fühlen zulassen. Sie zeichnet also das Leben Rosas nach, ein Leben, das von den Zeitläuften und von Rosas Herkunft geprägt ist.
Rosa ist ein Wechseljahreskind. Der 50-jährigen Mutter ist die erneute Schwangerschaft peinlich, sie verdrängt und verschweigt diese, bis die Geburt Tatsachen schafft. So ist es fast schon konsequent, dass sie Rosa auch keine Liebe entgegenbringt, sondern sie immer spüren lässt, dass sie unerwünscht war und ist. Zudem ist die Mutter überfordert und verbraucht, belastet mit der geführten Gastwirtschaft, in der Rosas Vater zu seinen besten Gästen zählt und keinerlei Hilfe darstellt. Rosa steht diese Kindheit durch, wächst heran. Der Bernhardiner Barry ist ihr bis zu seinem Tod in ihren ersten Kinderjahren ein Wärmespender für die Seele. Eines Tages, Rosa ist in der Lehre, begegnet ihr Josef, Tischler von Beruf. Die beiden werden ein Paar, es bahnt sich eine große Liebe an. Doch noch bevor sie wirkliche Zukunftspläne schmieden können, nimmt ein tödlicher Arbeitsunfall Rosa den geliebten Mann von einem Tag auf den anderen. Trost und Verständnis findet sie lediglich bei ihrer Arbeitgeberin, der Weißnäherin Michalek. Sie wird für kurze Zeit zum Mutterersatz. Es muss bei der kurzen Zeit bleiben, weil inzwischen das Jahr 1939 geschrieben wird und die Jüdin Michalek erkennt, dass sie Österreich verlassen muss, solange es noch geht. Dass sie mit Prag nicht die erwünschte Sicherheit gewählt hatte, ist ein bitterer Irrtum, dem nicht nur sie unterlag.
Rosa jedenfalls ist wieder allein und zurückgeworfen in die emotionale Kälte der elterlichen Gaststube, zu Eltern, die sich der neuen Zeit geöffnet haben, zu guten nationalsozialistischen Bürgern mutierten. Sie bevormunden Rosa weiterhin, erfassen sie nicht als Menschen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen. In dieser elenden Situation bietet der Schneider Ferdinand, ein Witwer, Rosa die Ehe an. Sie nimmt an und hat richtig entschieden: Ferdinand bringt ihr Respekt und Liebe entgegen. Wäre es nicht das Dritte Reich, könnte die Geschichte ein glückliches Ende haben. Aber es sind die 40er Jahre, es herrscht Krieg und Ferdinand ist als Fluchthelfer im Widerstand gegen das System engagiert. So gerät er bald in die Fänge der Gestapo, der Tod ereilt ihn in Sachsenhausen. Wieder hat Rosa einen ihr wichtigen Menschen verloren. Bald nach der Nachricht von Ferdinands Tod wird sie ausgebombt, irrt gewissermaßen nur noch durch ihr Leben, und fällt glücklicherweise Gusti in die Hände. Gusti, die vom Alter her ihre Mutter sein könnte, deren geistig zurückgebliebener Sohn den Nazis zum Opfer fiel. Diese Frau nimmt Rosa auf, die Frauen geben sich gegenseitig Kraft. Der Krieg geht zu Ende, der Typhus kommt und nimmt sich Gusti. Erneut ist Rosa auf sich allein gestellt und sie, die nicht weiß, warum immer sie zurückbleibt, fühlt sich schuldig: „… ich bring allen nur Unglück. Ich hätte gar nicht auf die Welt kommen dürfen, das hat meine Mutter selbst gesagt, oft und oft. Alle sind gestorben, der Josef, der Ferdinand, die Gusti “ – und die Frau Michalek, hätte sie beinahe gesagt, schluckte es im letzten Augenblick hinunter, noch gab es die Möglichkeit, daß wenigstens sie überlebt hatte. „Alle, die gut zu mir waren …“ Sie wird zur Straßenbahnschaffnerin gemacht, ein Beruf, den sie bis zu ihrer Berentung ausüben wird, sie geht ab und an in die Volksoper, zum Pferderennen, führt das zurückgezogene und unspektakuläre Leben einer allein stehenden Frau. Im Laufe der Jahre entsteht wieder ein Kontakt zur Familie, allerdings mehr zu den nächsten Generationen, den Nichten und Neffen, die ein bisschen als Ersatz für die ungeborenen Kinder Rosas fungieren. Doch je älter diese werden, desto geringer deren Interesse an der alten Tante.
Als Rosa in Rente geht, gibt es Probleme mit den Zahlungen, sie nimmt eine Haushälterinnenstelle an, will nicht auf ihr Erspartes zurückgreifen. Und in dieser Familie wird sie heimisch, man kann sagen, sie findet eine Ersatzfamilie, in der sie selbstbewusst ihr Reich regiert. Doch damit wird ihr vielleicht auch ihr Traum einer eigenen Familie wieder bewusster, ein Traum, der sich nie erfüllte. Und plötzlich erfindet sie sich eine eigene Familie, insbesondere einen Enkel, von dem sie ihrer Arbeitgeberin gerne erzählt. Erst nach dem Tod Rosas erfährt diese, dass es weder Tochter noch Schwiegersohn noch Enkel je gegeben hat.
Vielleicht war dies der Auslöser für Renate Welsh zu diesem Buch, denn es war ihre Familie, in die Rosa die letzten beiden Jahrzehnte ihres Lebens kam und nach dem Rechten sah, von der man sagte, „eine praktischere und vernünftigere Frau hätte es nie gegeben“. Und Rosa war die Frau, die extrem emotional reagierte, als Renate Welsh ihr von einem Ehepaar aus dem Widerstand erzählte, das sie für ein Buch befragt hatte. „Sie war so verstört, dass ich mich nicht traute, das Thema noch einmal anzusprechen“, schreibt Renate Welsh und gibt zu, dass wir manchmal im falschen Moment Rücksicht üben.
Rosa war eine der legendären „Trümmerfrauen“, die als stark, pflichtbewusst und diszipliniert gelten, die erledigten, was zu erledigen war, keine Befindlichkeiten, sondern Pragmatismus zeigten. Was man dabei leicht vergisst, auch diese Frauen hatten ihre Vorstellungen und Träume. Doch Umstände und Pflichtbewusstsein verhinderten viel, wenn nicht alles. Was blieb, vielleicht das Einzige, das half, war eine harte Schale, die die verletzte Seele niemandem zeigen sollte, eine Art von Selbstschutz.
Rosa ist typisch für Frauen, denen die Zeitumstände, nicht nur Faschismus und/oder Krieg, sondern manchmal auch nur die gesellschaftlichen Bedingungen, das Leben aus der Hand nahmen. Und daran am Beispiel Rosas zu erinnern, ist das Verdienst dieser Romanbiografie.