#Roman
#Debüt

Die Schattenmacherin

Lilly Gollackner

// Rezension von Veronika Hofeneder

Lilly Gollackner ist bislang als Radio- und Fernsehmacherin sowie als Filmregisseurin und Drehbuchautorin in Erscheinung getreten und wurde für ihre journalistischen Arbeiten mehrfach ausgezeichnet (zuletzt New York Festival Gold World Medal (2019) und Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis (2018)). Nun legt sie mit Die Schattenmacherin ihren ersten Roman vor, der nicht nur gut recherchiert und spannend erzählt ist, sondern auch durch die Relevanz seiner Themenwahl besticht.

Die Schattenmacherin spielt in gar nicht so ferner Zukunft, im Jahr 2068. Nach Temperaturanstieg, Flutkatastrophen und Seuchen, daraus resultierenden Fluchtbewegungen und Kriegen mit atomaren Waffen sind weite Teile der Erde unbewohnbar geworden. Übrig geblieben sind 283.469 Menschen – ausschließlich Frauen, die Männer (‚Androtoken‘) sind im Jahr 2034 durch eine ungeklärte Ursache ausgestorben.

Sie haben sich vor der sengenden Hitze in den schützenden Schatten von Kuppeldächern zurückgezogen. Sonnencreme und Schutzkleidung sind Basisausstattung; Lüften ist streng limitiert: beim Öffnen eines Fensters beginnt ein 20-sekündiger Timer zu laufen, nach dessen Ablauf sich dieses automatisch wieder schließt; die wenigen verbleibenden Wälder sind durch ein Hochsicherheitssystem geschützt und dürfen nicht betreten werden – nur die älteren Frauen erinnern sich noch an den „moosigen Geruch und das Knacksen in den Wäldern ihrer Kindheit“ (S. 22); ein hochtechnisiertes Kommunikations- und Navigationssystem ermöglicht totale Überwachung und limitiert Sozialkontakte wie Bewegungsradius der Bewohnerinnen.

In diesem so ungemütlichen wie bedrohlichen Szenarium entspinnt sich ein Machtkampf zwischen der 70-jährigen Präsidentin Ruth, die nach Jahrzehnten der Herrschaft an Ania, eine Vertreterin der jüngeren Generation, übergeben soll. Doch Ania hat nicht umsonst das anspruchsvolle Auswahlverfahren für sich entschieden und ist nicht bereit, Ruths Regierungsstil unhinterfragt weiterzuführen. Sehr schnell lernt sie, vorsichtig zu sein und taktisch zu agieren, wenn sie ihre Ziele weiterverfolgen möchte. Dabei fehlt ihr aber oft das Wissen um historische Grundlagen und Zusammenhänge – bedingt auch durch eine sehr rigid praktizierte Cancel Culture der Älteren: „Weil wir nach vorne schauen müssen, nicht zurück. Aus manchen Dingen der Vergangenheit kann man nur lernen, dass man sie besser vergisst.“ (S. 162)

Gollackner entspinnt sehr überzeugend die Dynamiken und Kontroversen, die sich in einer Gruppe im Kampf um die Macht entwickeln. Neben dem Generationenkonflikt zwischen den erfahrenen älteren Frauen, die die Welt vor Zerstörung und Krieg gekannt haben, emotionale Verluste erlitten und maßgeblich die Neuordnung der bestehenden Gesellschaft gestaltet haben, und den jungen Frauen, die den aktuellen Herausforderungen unerschrocken und mit neuen Methoden begegnen, wird der Gruppenzusammenhalt auch durch wechselnde Allianzen und Intrigen immer wieder auf die Probe gestellt. Dass es sich hier um eine Gruppe von gleichgeschlechtlichen Mitgliedern handelt, fällt dabei nur insofern ins Gewicht, als die Konflikte um Bedeutung und Vorherrschaft völlig egalitär ausgetragen werden, an Brutalität und Perfidie stehen sie bekannten patriarchalischen Mechanismen um nichts nach, so entspricht z. B. die Entfernung unliebsamer Gegnerinnen durch ‚Suizid‘ (aktuellen) autokratischen Herrschaftspraktiken.

So spannend wie klug ist dabei Gollackners multiperspektivisches Erzählen, das Sachlagen von verschiedenen Seiten beleuchtet und scheinbar eindeutige Lösungsvorschläge als unzulässig entlarvt. So erhält beispielsweise Anias Eintreten für eine Wiedereinführung der Androtoken Schützenhilfe von Ruths Gefährtin und Verbündeter der ersten Stunde Pola: „Wir haben das Patriarchat aus dem Gedächtnis der Gesellschaft gelöscht. Sie können neu beginnen. Vielleicht ist genug Zeit vergangen.“ (S. 116) Und durch Polas Augen erscheint die kompromisslose Ruth, die immer Härte und Stärke beweisen muss, auch als verletzliche und kampfesmüde Frau: „Meine starke Ruth, denkt sie. Wie schön wird das werden, wenn du endlich deinen Panzer ablegen darfst.“ (S. 105)

Die Botschaft des Romans ist zunächst eine klar feministische: Frauen treten verantwortungsvoll und bestimmt auf und hinterlassen deutliche Spuren. Sie nehmen sich Platz und gestalten den Raum, in dem sie leben, nach ihren Vorstellungen. Doch nur der Kampf um des Kampfes willen und der reine Machterhalt reichen ihnen nicht aus. Und hier erhebt der Roman seinen sehr klugen, weil humanistischen Anspruch, was ihn wohltuend von einschlägigen Debatten abhebt: Denn Gollackners Frauenkollektiv betrachtet die Geschlechterunterschiede als beschränkend und sieht sie in seinem utopischen Lebensentwurf als überwunden an. Die beste aller möglichen Welten ist eine für ALLE Geschlechter: „Wir wollten Menschen sein. Keine Frauen.“ (S. 183)

 

Veronika Hofeneder ist freie Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leitung und Durchführung mehrerer wissenschaftlicher Editionsprojekte zu Gina Kaus und Vicki Baum. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der 1920er- und 1930er-Jahre, Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur von Frauen, Literatur und Individualpsychologie, Feuilletonforschung, Editionsphilologie. https://www.germ.univie.ac.at/veronika-hofeneder/

Lilly Gollackner Die Schattenmacherin
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2024.
192 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen.
ISBN: 978-3-218-01424-3.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin und einer Leseprobe

Rezension vom 25.04.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.