#Roman

Die Rotte

Marcus Fischer

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

Die Rotte Ferchkogel am Ferchkogelsee besteht aus fünf Bauernhöfen, die mit dem Asphaltieren der Straße und der Zunahme von Sommerfrischlern und Ausflüglern ausgebaut worden sind. Nur der Reisingerhof ist unverändert und somit der kleinste geblieben: ein schmaler, alter Dreikanter in Form eines Hufeisens, mit einer Tormauer zur Straße hin und Ställen, die „niedrig und dunkel“ sind.

Eine Neigung, sich zu verdunkeln, hat auch das Gemüt seines Besitzers Hannes Reisinger. Er leidet an Depressionen, die schließlich dazu führen, dass er seine Pistole aus dem Waffenschrank nimmt und zum Schwarzbach hinuntergeht.
Bevor er dort ankommt, dürfte er aber noch in einen Disput mit Erwin Firnbichler in der Jagdhütte von Gernot Eitler verwickelt gewesen sein. Firnbichler soll Reisinger dazu gebracht haben, ihm per Handschlag sein Seewiesengrundstück, das sich über das halbe Ostufer des Ferchkogelsees verteilt, für 30.000 Schilling zu überlassen. Danach bleibt Reisinger verschwunden, taucht aber einige Zeit später als Wasserleiche wieder auf.

Seine Tochter Elfi vermutet, dass ihr Vater, der täglich mehrere Tabletten eingenommen hat und Alkohol daher meiden hätte sollen, betrunken gemacht worden ist. Sie unterstellt Firnbichler, der überall mitzumischen versucht, wo es etwas zu holen gibt, eine üble Absicht. Denn kaum passiert in der Rotte ein Unglück (ein Brand, Tod, Schulden, ein Hof ohne Erben), schon ist er zur Stelle und hofft, „dass einer die Nerven verliert“.
Umso mehr geht es für Mutter und Tochter Reisinger deshalb darum, sich in der männerdominierten bäuerlichen Welt der Rotte zu behaupten. Weil Elfi aber von argen Stimmungsschwankungen geplagt wird, können sie die Arbeit am Hof alleine nicht mehr bewältigen und brauchen Hilfe. Der 24jährige Mechaniker Franz Kehrtegger, der von außerhalb kommt und als „Windiger“ verschrien ist, springt schließlich ein. Er verliebt sich in die zwei Jahre ältere Elfi, die zwar ein wenig „gschreckt, aber fesch“ ist. Als die beiden heiraten, spricht die Mutter von „Unglück“, das sich ihre Tochter ins Haus holt, und ist ziemlich verstimmt. Und als Franz dann auch noch den alten Stall einfach wegreißt, erleidet sie einen Schwächeanfall, schlägt mit dem Kopf auf dem Steinboden auf, kommt ins Spital, hat dort einen Schlaganfall und ist plötzlich ein Pflegefall.
Elfi muss nun nicht bloß sie, sondern auch noch ihren kleinen Sohn Herbert und das Vieh versorgen, während Ehemann Franz angeblich eine Affäre mit einer Aushilfskellnerin und seiner Schwägerin unterhält, sich im Wirtshaus herumtreibt oder mit seinem auf Kredit gekauften BMW durch die Gegend braust, anstatt dass er sich um Frau und Kind und die auf dem Hof lastenden Schulden kümmert. Man hält ihn deshalb für einen „Hallodri“, der „jetzt komplett deppert geworden ist“. Und das hinterlässt Spuren. Es nistet sich etwas „Dunkles“ in Elfi ein: „ein kalter, schwarzer Sud“, der manchmal so fest in Arme und Beine fährt, dass sie sich kaum zu bewegen vermag, so große Sorgen macht sie sich um Hof und Schulden, ihren Mann, die Mutter und „um das, was werden soll“. Da ist auch das Brotbacken, das sie als Zwölfjährige erlernt und zum kleinen Nebenverdienst erweitert hat, weil den Leuten ihr Brot viel besser schmeckt als das Maschinenbrot des Bäckers, keine richtige Ablenkung. Die Firnbichlers scheinen nämlich nur eines zu wollen: den Reisinger-Hof zugrunde zu richten. Denn nicht nur behaupten sie beharrlich, dass ihnen das Seegrundstück zustehen würde, sie reden auch Elfis Brot schlecht, bringen Geschichten über die angeblichen Affären von Franz in Umlauf, verunreinigen den Tank seines BMWs mit Urin und zeigen ihn wegen Pfuschens an.
Wie er dann im Zusammenwirken von übermäßigem Alkoholgenuss und dem von Elfi für ihn gebackenen, mit einem Schlafmittel versehenen Brot einen Schlaganfall erleidet, fühlt sich Elfi, als läge sie unter einem Steinhaufen. Schließlich ist sie auf einen Schlag allein mit dem „nackerten Stall ohne Dach(…), den Feldern, die bestellt gehören. Den Viechern. Den Maschinen. Den Schulden. Der Mutter. Dem Buben.“
Und schon wollen alle etwas von ihr: der Vater vom Franz das Geld, das er seinem Sohn für den Hof geborgt hat; der Meister aus der Werkstatt den BMW; die Brückenwirtin die Begleichung der offenen Wirtshausrechnungen sowie die Bank die Tilgung sämtlicher Kreditschulden.
Überfordert mit sich, ihrer Arbeitslast, den Gefühlsschwankungen und der angespannten finanziellen Situation steckt Elfi den Kopf in den Sand und gibt die Schuldscheine und Zahlungsaufforderungen ungeöffnet in eine Blechbüchse. So kommen insgesamt 290.000 Schilling zusammen, die es zu begleichen gilt. Denn das, was die Mutter gespart und Franz hinterlassen hat, ist längst für seine Schulden aufgegangen.
Und doch dreht sich die Stimmungsspirale noch weiter ins Negative, weil die Firnbichlers einfach nicht aufhören, Gerüchte zu verbreiten. Sie behaupten, Elfi hätte sie mit der Mistgabel vom Hof gejagt oder würde ihre Mutter einsperren und fast verhungern lassen.
Hilfe kommt von ihrer Schwägerin Eva, die sie unterstützt, eine Strategie zur Bewältigung der Schulden zu finden. Auch andere sagen Unterstützung zu, damit sie wieder „auf die Beine kommt“. Am Ende aber heißt es dann immer, „sie soll verkaufen“, was sie schließlich dazu bringt, sich ganz in sich zurückzuziehen, als würde es „die Welt draußen gar nicht geben“. Sie lässt niemanden mehr herein und macht meistens nur noch das Nötigste, weshalb der Dreck in Haus, Hof und Stall immer mehr wird. Manchmal aber sieht sie alles genau: „die kranken Viecher, die verendete Sau, was gemacht gehört(…), wer aller Geld von ihr kriegt“.
Zu guter Letzt erhält sie auch noch einen eingeschriebenen Brief, in dem ihr die Behörde vorwirft, sie würde ihre Tiere vernachlässigen, weshalb der Tierarzt verpflichtet sei, innerhalb von zwölf Tagen im Beisein eines Exekutivbeamten Nachschau zu halten. Das Schreiben, datiert mit „12. Feber 1975“, der als Kapitelüberschrift immer wieder auftaucht, mobilisiert in ihr noch einmal alle Kräfte. Sie beseitigt Dreck und Mist, verteilt frisches Stroh zwischen den Tieren, setzt die Melkmaschine an. Und dann hat sie sogar einmal Glück: Wegen der allgemeinen Ölkrise startet das Land Niederösterreich nämlich eine Kampagne, in der die Menschen aufgefordert werden, nicht mehr nach Italien und Jugoslawien zu fahren, sondern Urlaub in der näheren Umgebung zu machen, was den jungen Bürgermeister dazu ermuntert, „ein Projekt zur weiteren Erschließung des Ferchkogelsees“ bei der Landesregierung einzureichen. Aus dem dafür benötigten Gutachten geht hervor, dass Elfis Seegrundstück mit 385.000 Schilling einen vielfach höheren Wert besitzt als jenen, den sich Firnbichler ausgedacht hat. Dieser Mann verkörpert die Unverschämtheit und Gier in Person. Doch Elfi lehnt sich – so gut sie kann – gegen ihn auf, der sich ihren Besitz am liebsten einverleibt hätte und deswegen alles andere als zimperlich mit ihr umgeht. Da kommt es zu „Forstfrevel“ genauso wie zum Missbrauch des Wegerechts. Oder es wird ganz einfach behauptet, dass die Besitzverhältnisse auf dem Reisingerhof nicht geklärt seien, sodass Elfi länger niemanden findet, der bereit ist, ihre Felder und ihren Wald zu pachten.

Marcus Fischer erzählt diese Dinge mit Empathie und Verve, als würde er reale Verhältnisse unverfälscht und wahrheitsgetreu abbilden wollen. Selbst die Sprache passt er seinem Erzählgegenstand an. Sie ist rural geprägt und greift dementsprechend auf von dialektalem Reden beeinflusste Satzkonstruktionen zurück, die dem zwischen 1973 und 75 angesiedelten Text zu großer Authentizität verhelfen. Der Autor zeigt sich äußerst erfinderisch. Er kreiert schöne, oft poetisch anmutende Bilder und Vergleiche, die eine bis in Einzelheiten stimmige, oft wilde, spannungsgeladene Atmosphäre zu entfalten vermögen, in deren Mittelpunkt der Existenzkampf einer von Ängsten geplagten jungen Frau steht, die trotz vieler Widrigkeiten nicht aufgibt, bis sich die Verdunkelung aufzulösen und die Sicht auf ein normales bäuerliches Leben ohne gröbere Entbehrungen und Zwänge wieder Gestalt anzunehmen beginnt.

Marcus Fischer Die Rotte
Roman.
Graz, Wien: Leykam, 2022.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-7011-8251-0.

Rezension vom 04.11.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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