#Roman

Die Richterin

Lydia Mischkulnig

// Rezension von Janko Ferk

Ein literarisiertes Zeitdokument. Der Buchtitel, Die Richterin, lässt ein anderes Fachgebiet der Rechtswissenschaften erwarten. Die Strafrichterin eines Gerichts, allenfalls eine Zivilrichterin am Bezirks- oder Landesgericht, nicht aber eine „Richterin am Wiener Verwaltungsgerichtshof“. Die Begriffsverwandtschaft ist der erste Glanzpunkt beziehungsweise die erste Pointe dieses Romans.

Lydia Mischkulnig hat ein feinnerviges Buch über eine Juristin geschrieben. „Gabrielle ist Richterin.“ Auch der Vorname ist passend und man hat unverzüglich eine Vorstellung von dieser Frau. Man verbindet mit ihr augenblicklich und ohne Zweifel eine gewisse Macht, zumal sie in zweiter Instanz über Asylfälle entscheidet. Sie trifft Tag für Tag lebensverändernde und – in der buchstäblichen Wortbedeutung – lebenswichtige Entscheidungen. Sie bewilligt Asyl oder weist Anträge ab beziehungsweise zurück, natürlich in strenger Bindung an den Rechtsbestand der Republik. Hat Gabrielle ihre Entscheidung getroffen, können Menschen bleiben oder müssen gehen. Einige tauchen dann ganz einfach unter.

Der Leser und die Leserin werden unwillkürlich darüber nachdenken, worauf ihre Entscheidungen basieren. Gefragt wird nach der Begründung. Ob diese rational sowie sachlich und damit nachvollziehbar sind. Nicht im Einklang mit unserem Rechtsstaat wäre ein politischer oder (partei-)politisch motivierter Spruch.

Überdies ist zu fragen, ob bei der Entscheidung Sympathie oder Antipathie eine Rolle spielen, was natürlich verheerend wäre. Empörend geradezu. Wenn man bedenkt, dass es manchmal um Leben oder Tod geht, wenn ein Asylwerber in ein Land abgeschoben wird, das im rechtlichen Sinn nicht lang fackelt. Außerdem könnte es sein, dass Gabrielles Erkenntnis von heute morgen nicht mehr richtig ist.

Im Buch gibt es zwei (große) Momente, in denen das Leben der Richterin aus den Fugen gerät. Es taucht einerseits das Gerücht auf, jemand wolle sich wegen einer Entscheidung an ihr rächen, und anderseits gibt es auch im Privaten ein Problem. Bei der Rache ist zu klären, ob die Verfolgung nur Einbildung ist oder tatsächlich Gefahr besteht. Und im persönlichen Umfeld verrichtet ihr Ehemann Joe, ein frühpensionierter Lehrer, in ihrem Chanel-Kostüm Hausarbeiten… Sie wird verunsichert und weiß nicht mehr recht, was wirklich „ist“.

Lydia Mischkulnig hilft ihre Sprachmächtigkeit beim Beschreiben der Welt des Verwaltungsrechts und ihrer Funktionsträgerin. Erstaunlich ist der realistische Einblick in den Berufsalltag, der dem normalen Staatsbürger fremd oder verborgen bleibt, zumal er mit diesem in der Regel nichts zu tun hat. Mit einem Verkehrsvergehen kommt man selten in die zweite Instanz und noch seltener persönlich vor eine Richterin. Lydia Mischkulnig bedankt sich deshalb bei vielen, die ihr die Zugänge zu Recht und Gericht eröffnet, aber auch bei Menschen, die ihr die Kundigkeit über Flüchtlingsfragen zur Verfügung gestellt haben.

Eines halte ich im Zusammenhang mit diesem Buch für besonders wichtig. Lydia Mischkulnig beweist nachvollziehbar und schlüssig, dass richterliche Entscheidungen kein Computer, sondern nur ein Mensch treffen kann. Ein Mensch mit Gerechtigkeitssinn, Objektivität, Wissen und der Zuwaage Empathie. Keine Maschine würde diese Legierung auch nur annähernd zusammenbringen.

Die Autorin beschreibt das Klima im Land, in dem Hunderten von Asylwerbern nach dem Lehrabschluss die Abschiebung droht. Sie erzählt nicht nur über die Lehrlingsproblematik, sondern schließt andere (Rand-)Themen ein, die Klimafrage, #MeToo sogar, den rechten Terror in Deutschland und die Burschenschafter in den österreichischen Ministerien sowie im Parlament. Es ist eine Bestandsaufnahme über uns und die anderen …

Ein Höhepunkt des Romans sind diese Sätze: „Die freiwilligen Rückkehrer wurden in Sammelflügen von Wien nach Kabul gebracht. Sie konnten bei klarem Wetter die Strecke, für die sie auf dem Boden Monate und Jahre gebraucht hatten, in zwei Stunden überfliegen.“ (!) Nicht ohne Grund konstatiert die Richterin Gabrielle: „Die wahre Perversion ist die politische Haltung der christlich-sozialen Partei gegenüber Menschen in Not.“ Naturgemäß hat sie diese Aussage nicht in eine ihrer Entscheidungen aufgenommen. Sie würde – als Begründung – wohl den Rechtsstaat „pervertieren“.

Nicht nur die Richterin Gabrielle hat psychologischen Tiefgang, sondern mit ihr auch die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig, die ein literarisiertes Zeitdokument verfasst hat. Chapeau!

Lydia Mischkulnig Die Richterin
Roman.
Innsbruck: Haymon, 2020.
289 S.; geb.
ISBN 978-3-7099-8110-8.

Rezension vom 17.08.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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