Worum geht es? Im Grunde um die Verluste Österreichs durch die Vertreibung und Ermordung der Juden und um die Versuche, einiges aus diesen Verlusten zu retten und vor dem Vergessen zu bewahren. Musik, Kunst, Film, Literatur, Soziologie, Geschichtsforschung, Theaterwissenschaft, von den ersten zaghaften Anfängen ist die Rede und von den schwierigen Bedingungen, unter denen die Exilforschung in Österreich stattfand / stattfindet. (S. 10) Eine thematische Vollständigkeit wird nicht angestrebt, trotzdem erhält der Außenstehende Einblick in eine große Anzahl von Projekten und ist beeindruckt von ihrer Vielfalt und ihrer Reichhaltigkeit. An dieser Stelle ist es nur möglich, einige herauszugreifen.
Die Bandbreite ist enorm, von der Datenbank Jüdische Journalisten in Österreich (Venus, S. 279-296) über das Wissensportal ScienceExile (Zwiauer / Riedmann, S. 297-301) bis zur ausländischen Perspektive Austrian Exile Studies in Britain (Brinson / Malet, S. 333-342). Bei der Entstehung des „Handbuchs der österreichischen Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert“ (Blumesberger, S. 147-153) wird auch eine andere Problematik dargestellt. Es geht nicht nur um die Überlebenden wie Anna Maria Jokl, sondern darum, Lebensdaten und Leistung der Toten wie Marianne Schmidl, eine 1890 geborene Ethnologin, die 1942 deportiert und ermordet wurde. Sie steht stellvertretend für viele andere. Die Verletzungen der Zeit der Verfolgung mußten bei der Sammlung der Daten für das Handbuch berücksichtigt werden (S. 148). Bei manchen der lebenden jüdischen AutorInnen brachen dadurch seelische Wunden wieder auf.
Wie stand / steht die österreichische Germanistik zur Exilforschung? (Holzner, S. 69-79) Auch hier werden die Probleme, die Versäumnisse, die Fehlleistungen nicht geschönt, gleichzeitig aber eine Zukunftsperspektive für die österreichische Exilforschung und generell für die österreichische Literaturwissenschaft entwickelt. Im Beitrag über die „Österreichische Gesellschaft für Literatur“ und die Exilliteratur (Gruber, S. 81-85) wird aus einer Rede Martin Esslins zitiert, die die Wunden mancher Exilanten in einem Satz formulierte. Er traf 1947 einen früheren Schulkollegen, der ihm beredt sein ganzes Unglück schilderte und lakonisch feststellte: „Du hast ja Glück g’habt; warst ja in der Emigration.“ (S. 82) Esslin stellte 1999 fest, daß er mit Wolfgang Kraus und der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“ erstmals diejenigen getroffen habe, die wirklich willens waren, abgerissene Verbindungen herzustellen für diejenigen, die trotz der Wunden noch eine Verbindung zur alten Heimat spürten. Viele wollten weder zurück noch fühlten sie sich willkommen.
Am Ende des Bandes wird die Theorie in die Praxis umgesetzt durch die Schilderung der Gründung einer Plattform zur Information und gegenseitigen Unterstützung in diesem Bereich. Am 4. April 2002 wurde auf einer Generalversammlung der erste Vorstand der „Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung“ gewählt. Die bisherigen Mängel und Versäumnisse wurden sachlich festgestellt: es gäbe bisher in Österreich keinen einzigen Lehrstuhl für Exil- und Holocaustforschung, es habe nie eine umfassende Exilausstellung stattgefunden und es sei das Bewußtsein der Bedeutung und des Ausmaßes des Exils aus Österreich kaum in breitere Kreise eingedrungen. (S. 371) Dieser Band fügt sich zu einem Ganzen als Werk der Hoffnung. Hoffnung auf eine Zukunft, die mehr sein wird als eine Arbeit am nationalen Gedächtnis.