#Prosa

Die Reise

Eva Maria Gintsberg

// Rezension von Sabine Schuster

Die Tiroler Schauspielerin Eva Maria Gintsberg legt mit Die Reise ihr literarisches Debüt vor, das mehrere Frauenschicksale zu einem dichten, fast surreal anmutenden Text verbindet. Eine Zugreise, eine Handvoll Figuren, verborgene Zusammenhänge und der kühle Atem der „großen“ Geschichte sind die Zutaten ihrer Erzählung, in der sie auf schlanken 70 Seiten durchaus schwerwiegende Themen verhandelt: Es geht um Schuld, Missbrauch, Todesangst und um das Schweigen, insbesondere der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Dieses Schweigen aufzubrechen und in Worte zu fassen sei ein Ziel ihres Schreibens, so die Autorin in einem Interwiew mit Bernd Schuchter, in dessen Innsbrucker Limbus Verlag die neu gegründete edition himmel beheimatet ist.

Ein Familiengeheimnis treibt die namenlose Ich-Erzählerin der ersten Geschichte frühmorgens auf einen kalten Bahnsteig. Sie ist überstürzt aufgebrochen, um nach einer schlaflosen Nacht eine Frage zu klären: Was bedeuten die Buchstaben „I.L.F.“ auf dem Foto einer fremden Frau, das sie am Vortag in der Korrespondenz ihres verstorbenen Vaters fand? War da eine andere Frau, war da etwas Ungeheures, das nie ausgesprochen werden durfte? Franz, ein Kamerad ihres Vaters im Feld, könnte das Geheimnis der drei Buchstaben kennen. Zu ihm ist sie nun unterwegs. „Das Unausgesprochene flüstert“ und fremde Kriegsszenen schieben sich in die Wahrnehmung der Reisenden, als sie aus dem Zugfenster schaut, in Nahaufnahme ein junger Soldat, der vor ihren Augen stirbt. Daneben Erinnerungen an die Kindheit, an Waldspaziergänge mit dem Vater, ihre Hand in seiner, Schattenlichter und sich bewegende Sträucher, plötzliche Panik – ein Flashback in den Krieg, über das sie nie miteinander sprechen werden. Auch die Mutter rückt ins Bild, fremd, immer im Streit mit Vater, in der Erinnerung assoziiert mit dumpfen Schlägen auf Holz – „überflüssige kleine Katzen, die sie mit Selbstverständlichkeit gegen Holzstöße schleuderte“ (S. 18). Ein Vogel klatscht ans Zugfenster, Innenwelt und Außenwelt greifen wie ein Uhrwerk ineinander.
Ein freundlicher alter Herr hat zuvor den roten Koffer der Erzählerin in die Ablage gehoben. Nun bietet er Bitterschokolade und Schnaps aus seinem Flachmann an – auch Vater hatte immer einen Flachmann bei sich. Ein rothaariges Mädchen läuft durch den Zug und verkündet mit fröhlicher Stimme, ihr Vater sei tot. Wie Alice in den berühmten Kaninchenbau rutscht das Mädchen herein ins Zugabteil, legt der Erzählerin einen Kaugummi in den Schoß, bringt später einen Strauß Wiesenblumen, drängt schließlich mit kindlicher Vehemenz in ihr Leben: „Kannst du mich mitnehmen?“ (S. 22)
Der alte Herr ist unterwegs zu seiner Tochter, die in einem Krankenhaus im Koma liegt. Er bittet die Erzählerin, ihn dorthin zu begleiten.
Was erwarten Sie von mir, wenn ich mitkomme? Er lächelt. Nichts, gar nichts. Ich möchte nur, dass Sie mitkommen und meine Tochter sehen. Wie sie daliegt, scheinbar friedlich mit sich und einem Stück der Welt.“ (S. 20)

Im Handumdrehen wird die Zugfahrt zu einer inneren Bewegung, die ganz andere Wege einschlägt als geplant, am Ende ist der Erzählerin der eigentliche Grund ihrer Reise abhanden gekommen, und das im besten Sinne: „Er hat sich bereits aufgelöst in der versinkenden Weichheit meines Bettes, in den immer wiederkehrenden Träumen, die ich nicht erklären kann, in dem ausgefransten Teppich, über den ich nachts jedes Mal stolpere, wenn ich in der Küche ein Glas Wasser trinke. (…) Aufgelöst in meiner Kindheit. Aufgelöst, hier und jetzt.“ (S. 27)
Auf der Heimfahrt schläft sie friedlich ein, eine alte Frau hat sich fast unbemerkt zu ihr ins Abteil gesetzt.

Die zweite Erzählung im Band, „Wenn Bäume sprechen“, stellt uns die elfjährige Agnes vor, die aus prekären Familienverhältnissen in die Natur flüchtet und ihre freie Zeit auf Bäumen verbringt. In kurzen, hell aus dem Fließtext herausgehobenen Absätzen spricht sie selbst, während die Geschichte ihrer Familie auktorial erzählt wird. „Eiszeit“, „Vaterzorn“, „Bittere Scham“, „Sprachlosigkeit“, „Albtraum“ lauten die kleinen Zwischentitel dieser Geschichte, die von Agnes, ihrem zornigen alkoholkranken Vater, ihrer depressiven Mutter Rosa und ihrer Tante Sanna, die den Haushalt führt, berichtet. Das Mädchen ist stark und wird so bald wie möglich von Zuhause weggehen. Inzwischen schafft sie sich eine friedliche Gegenwelt im Wald. Mit ihren roten Haaren leuchtet sie aus dem Familiensumpf heraus wie ein Fabelwesen und fühlt sich bei den Füchsen wohler als bei den Menschen: „Ich habe rote Haare. – Wenn es dämmrig wird, blitzen die Augen der Füchse, wie bei den Katzen. Das gefällt mir.“ (S. 32)
Eines Tages eskaliert die Situation und Agnes ist plötzlich mit ihrer Tante Sanna im Zug unterwegs. Wohin weiß sie nicht, seit dem Tod ihres Vaters geht alles zu schnell.
Hier treffen die beiden Erzählstränge aufeinander und wir erleben die Reise gespannt nochmals aus der Perspektive von Agnes, deren Blick erst am roten Koffer, dann an den „netten Augen“ der Frau aus der ersten Geschichte hängenbleibt.

Im dritten Abschnitt schlüpfen wir in die Perspektive von Anges‘ Mutter Rosa, die nach dem Tod ihres Mannes allein im Haus der Familie zurückbleibt und erstmals seit Jahren ihr Zimmer wieder verlässt. Ihre Tochter hat sie mit Sanna weggeschickt. Eine kleine Holzkiste mit persönlichen Dingen – darunter ein Tagebuch und ein verblasstes Foto mit einer aufgekritzelten Jahreszahl – leiten ihre Erinnerungen. Wird sie ihr Kind wiedersehen? Immerhin lebt sie und wagt sich irgendwann hinaus in den Garten, „saugt das Licht auf wie ein vertrockneter Schwamm“. (S. 63)

Wie sich in der vierten Erzählung, „Die Erinnerung“, rätselhafte Verbindungen zu einem Kreis runden, das wird hier nicht verraten. Obwohl es der Spannung keinen Abbruch täte. Denn die Texte dieser Autorin haben ganz anderes zu bieten als Suspense, sie leben von sinnlicher Wahrnehmung, von Farben, Gerüchen, flüchtigen Assoziationen und nicht zuletzt vom interessierten Blick ins Innerste ihrer Charaktere, deren Denken und Fühlen die Autorin authentisch und in starken Bildern zur Sprache bringt. Erstaunlich ist, dass in der Dunkelheit dieser Geschichten auch Ruhe liegt, Versöhnung, Weltvertrauen.
„Und Blumen will sie kaufen, aber das wird sich schon finden“, heißt es über die alte, fast blinde Frieda auf ihrem ungewissen Weg zum Grab ihrer Jugendliebe. Soeben irrte sie noch in der Dämmerung über die Gleise, nun sitzt sie drinnen im Zug. Alles wird sich finden. Diese Gelassenheit scheint nicht in unsere durchorganisierte Gegenwart zu passen, sie wirkt jedoch als Grundton der Erzählung wohltuend nach.

Zeitlos nobel ist auch die grafische Gestaltung der „Reise“, das Baum-Motiv aus der Agnes-Erzählung findet sich als Prägung auf dem gelben Leineneinband wieder, dann noch einmal vorne im Buch, gedruckt in zartem Grau, passend zur Schrift. Vorsatzblatt und Schnitt in mattem Blau – vielleicht dem Himmel geschuldet. Wie auch immer, der erste Stern am Firmament dieser Edition funkelt schön.

Eva Maria Gintsberg Die Reise
Erzählung.
Insbruck: edition himmel bei Limbus, 2020.
76 S.; geb.
ISBN 978-3-903667-00-6.

Rezension vom 07.09.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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