#Prosa

Die Reise nach London

Anna Maria Jokl

// Rezension von Ursula Seeber

„Und was du weißt, hat keinen andern Ort“. Im Herbst 1977 reist die Rundfunkjournalistin, Schriftstellerin, Kinderbuchautorin und Psychologin Anna Maria Jokl nach London – und das nicht als gewöhnliche Touristin: nach über 20 Jahren kehrt sie in jene Stadt zurück, in der sie ab 1939 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten gelebt hat. Schon deshalb ist dieser weitere 20 Jahre später veröffentlichte, Wiederbegegnungen genannte Text kein Reisebuch, und er ist auch mehr als eine Autobiografie.

Mitte der 80er Jahre, so ein Interview der jüngeren Zeit, beendete Anna Maria Jokl, die heute in Jerusalem lebt, ihre Arbeit als Psychotherapeutin und wechselte zur Profession früherer Jahre zurück: „Dann habe ich angefangen, ein bißchen zu schreiben; es war für mein Gefühl nicht gut genug, damit kämpfe ich bis heute. – Es geht nicht um einen neuen Stil, sondern um: noch präziser, noch essentieller.“

Mit Vokabeln wie Verdichtung und Engführung läßt sich das Verfahren dieser lakonischen Bilanz auch beschreiben. Indem Anna Maria Jokl, sich erinnernd, Topografie und Menschen der ungeliebten Asylstadt neu „einsammelt“ („Nie nahe geworden, schien London abgelegt wie ein schlecht sitzendes Kleid, das dankenswert gegen die Kälte geschützt hatte“), arbeitet sie durch retardierende und verfremdende Elemente wie Zeitsprünge, Exkurse, Ellipsen und Neologismen einem Kontinuum des Erzählten entgegen: „Es gibt keine Ereignisse mit Anfang und Ende. Es ist wie ein Gewebe, wo die Anzahl und Farben der Fäden von Anfang an gegeben sind, nicht aber, wann sie ins Muster treten.“

Immer wieder wird dieses Textil der Lebensfäden eingeschnitten, gezerrt und verzogen, mit fatalen Folgen: Die Liebesbeziehung zu einem polnischen Offizier und Schriftsteller in London hat in den zwingenden Koordinaten von Krieg und Nachkrieg keine Chance, gelebt zu werden; die Ausbildung zur Psychotherapeutin am Institut von C. G. Jung in Zürich kann durch eine antisemitisch motivierte Intrige nicht abgeschlossen werden; 1950 folgt eine bis heute nicht geklärte Ausweisung der inzwischen bekannten Kinderbuchautorin aus der DDR.

Indem ihr in der „demoralisierenden ‚Vorläufigkeit‘ der Emigration“ die Erfahrung von Entwurzelung, Stereoptypisierung und Marginalisierung aufgezwungen wird, lernt sie, daß Konstanten und Richtpunkte fürs Überleben nur aus ihr selbst kommen können. Die Lebensform verlangt auch einen hohen Einsatz von ihr als Künstlerin: „In Prag war also das Sprechen von Berlin ausgelöscht; in England das Schreiben von Prag abgebrochen und man selber, schöpferisch vereitelt, amorph.“ Wie es Anna Maria Jokl immer wieder gelingt, sich ein Zentrum zu schaffen, Sprachen, Orte, Arbeitsfelder und soziale Kontexte neu zu erobern, liest sich in „Die Reise nach London“ ebenso eindrucksvoll wie ihre Miniaturen über Johannes R. Becher, C. G. Jung, Egon Erwin Kisch oder Martin Buber. Wer sich für Sozialgeschichte der Kinder- und Jugendliteratur oder österreichische Verlagsgeschichte nach 1945 interessiert, sei auf die Passage über die „Wiederbegegnung“ mit der Geburtsstadt Wien (S. 59f.) hingewiesen.

Anna Maria Jokl Die Reise nach London
Wiederbegegnungen.
Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1999.
127 S.; geb.
ISBN 3-633-54157-8.

Rezension vom 19.06.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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