Dabei bleibt die „Neinstimme“, Maria Haim (1917–1986), im Text reizvollerweise eigentlich doch ein Phantom. Der Ich-Erzähler, wie der Autor gebürtiger Deutscher, begegnet der geheimnisvollen Bäuerin erstmals, flüchtig, in seiner Kindheit, als er mit Eltern und Schwester in Altaussee auf Sommerfrische ist: eine schmale, unscheinbare Person mit hellem Kopftuch und Dirndl. Ihr seltsamer Spitzname weckt seine kindliche Neugierde, doch die an den Vater gerichtete Frage, warum die fremde Frau so genannt werde, wird von diesem nicht beantwortet. Fünfzig Jahre später übersiedelt der Erzähler, soeben frühpensionierter Lehrer, mit seiner Lebensgefährtin, die unverhofft ein Haus geerbt hat, nach Altaussee. Er, mehr unfreiwillig nach Österreich migriert, widmet sich der russischen Literatur. Sie, als gebürtige Wienerin froh des österreichischen Heimatbodens, befasst sich eingehend mit der Geschichte des Salzkammerguts. Wie es nicht anders sein kann, kommt in dieser heimatkundlichen Beschäftigung eines Badetags auch die Rede auf den „Anschluss“, als sie ihren Mann fragt: „[H]ier in Altaussee haben 1225 Einwohner für den ‚Anschluss‘ gestimmt, und stell‘ dir vor, eine einzige Person hat mit ‚Nein‘ gestimmt. Wer das wohl gewesen sein mag?“ (S. 16) Für den Erzähler löst sich in diesem Moment ein längst vergessenes Kindheitsrätsel. Er will nun mehr über diese „Neinstimme“ erfahren und beginnt zu recherchieren: über die Volksabstimmung und ihre propagandistische Vorbereitung; über das Agieren der örtlichen Bevölkerung und Würdenträger; und über das Leben der „Neinstimme“, deren wahren Namen ihm ein alter Bergarbeiter schließlich verrät. Allzu viel kann er über sie freilich nicht mehr ausfindig machen. Auf dem Friedhof muss der Erzähler entdecken, dass das Grab Maria Haims nicht einmal ihren Namen trägt. Ein von mehreren Zeitzeugen gehörter Schlüsselsatz, mit dem beschwichtigendes Schweigen über die Vergangenheit und über die Biographie der eigensinnigen Katholikin gebreitet wird, lautet: „Es ist ihr aber nichts geschehen.“ (S. 22) Pointenloser Schlusssatz der Erzählung: „Durch meine Beschäftigung mit der ‚Neinstimme‘ war es [Altaussee] schließlich auch ‚mein‘ Ort geworden.“ (S. 30)
Als Einwand gegen dieses schmale Buch ließe sich anführen, dass seine Deklaration als „Erzählung“ (so der Untertitel) auf halbem Wege irreführt: Der Text beginnt zwar in der Tat als literarische Erzählung (die starke Stellen hat), mündet dann aber unversehens ins Dokumentarische und seitenlange historische Quellzitate (samt Bildanhang), schwankt später noch einmal kurz ins Poetische zurück und mündet schließlich im Nachwort in zeitgeschichtlich-psychologische Reflexionen. Was mit mehr ästhetischer Strenge eine gültige literarische Bearbeitung eines großen Themas werden hätte können – die „Hoffnung, dass Zivilcourage vielleicht umsonst, aber nie vergeblich ist“ (Nachwort, S. 36) –, ist, nicht zuletzt auch sprachlich, allzu heterogen geblieben, womit dem Thema weder literarisch noch historisch wirklich entsprochen wird. Die Anschlusseuphorie und der Hoffnungstaumel, die der Abstimmung vom 10. April 1938 vorangingen, werden, mit schönen historischen Fundstücken, herausgearbeitet, die Einschüchterungsversuche aber, ohne die das landesweit beinahe einstimmige Abstimmungsergebnis geschichtlich kaum erklärbar wäre, übersehen. Den Rezensenten beschleicht zudem der Verdacht, dass die Publikation, wohl im Angesicht des Jubiläums, unter einem gewissen Zeitdruck entstanden sein muss: Dafür spricht nicht nur so mancher Lapsus, den ein ordentliches Lektorat beseitigen hätte müssen, sondern mehr noch der seltsame Umstand, dass der Name Maria Haim im Text bereits dreimal gefallen ist, bevor er dem Ich-Erzähler erstmals mitgeteilt wird. Als Versuch, exemplarisch eine denkwürdige Persönlichkeit ins Licht zu heben, ist das Büchlein trotz dieser Einwände sehr zu begrüßen.