#Roman

Die Nebelkrähe

Alexander Pechmann

// Rezension von Florian Dietmaier

Im Vorwort zu The Picture of Dorian Gray stellt Oscar Wilde einige Epigramme zur Beziehung von Kunst und Wahrheit auf. Zwei davon sind, wie Wilde selbst, für Alexander Pechmanns fantastischen zweiten Roman Die Nebelkrähe von Bedeutung. Zum einen wünsche kein Künstler irgendetwas zu beweisen: „No artist desires to prove anything.“ Zum anderen könnten sogar Dinge, die wahr sind, bewiesen werden, die EINE Wahrheit gibt es also nicht: „Even things that are true can be proved.“

Pechmann nimmt in seinem Roman direkten Bezug darauf. Sein Ich-Erzähler Peter stellt nach einer ersten Wilde-Lektüre fest, dass dieser „Lüge, Fälschung und Maskerade [würdigt], während er Fakten als minderwertig betrachtet. Wenn eine Wahrheit zum Faktum wird, schreibt er, verliere sie ihren intellektuellen Wert.“ Doch Pechmann gibt diese Ideen nicht bloß wieder, sondern spielt mit ihnen. Zum Beispiel heißt Peter im Nachnamen Vane und trägt damit denselben Namen wie ein Charakter aus Dorian Gray. Sicher ist diese Maskierung kein Zufall: Denn Wildes Peter wird von Dorian die Wahrheit ausgeredet und eine Lüge eingeflüstert. Und Pechmanns Peter weiß nicht, welcher Variante seiner Geschichte er trauen kann.
Dazu rollt Pechmann auf den ersten dreißig Seiten ein Bündel Handlungsfäden aus, die beim Versuch, sie im Romanverlauf aufzudröseln, zu einander widersprechenden und daher spannenden Mustern geflochten werden: Peter hat den Ersten Weltkrieg an der Front überlebt. In London schreibt er 1923 an einer Dissertation über Riemanns Geometrie. Seit Kriegsende wird er von Schatten begleitet. Ein Kriegstrauma oder mehr? Ein Arzt rät ihm: „Sobald Sie Stimmen hören, lauschen Sie. Antworten Sie meinetwegen. Wenn Sie Bilder sehen, schauen Sie genau hin. Verschließen Sie Ihre Augen nicht vor der Wahrheit, öffnen Sie Ihre Sinne.“

Eines morgens flüstert ihm beim Aufwachen eine kindliche Schattenstimme den Namen ‚Lily‘ ins Ohr und er lauscht gebannt, denn dieser Name erinnert ihn an seinen Kameraden Finley. Dieser wurde 1917 in der Nähe von Compiègne angeschossen. Vor seinem Abtransport gab er Peter eine Daguerreotypie eines Kindes. Nach dem Krieg konnte Peter ihn nicht mehr finden. Als Schatten begleitet er Peter aber weiterhin. Dieser setzt den Namen ‚Lily‘ mit dem Kind auf dem Foto gleich und begibt sich auf die Suche nach ihr. Auf Anraten eines Freundes geht er zur London Spiritualist Alliance, wo er mit Hilfe einer Spiritistin namens Mrs. Dowden Kontakt zur Schattenwelt aufnimmt.
Pechmann spielt hier mit der Wahrheit und erweitert sie mit einer Lüge: Eine Mrs. Hester Dowden gab es wirklich. Sie war als Hellseherin aktiv und hat ein spiritistisches Protokoll veröffentlicht, in dem sie schreibt, dass sie und ein gewisser Mr. V. Kontakt zur Nachwelt hatten. Und zwar speziell zum Geist Oscar Wildes. Pechmann gibt diesem Unbekannten einen Namen und erfindet eine Geschichte für ihn.
Deren Natur wird im Text hinterfragt. Als Gegenpol zur jenseitsgewandten Alliance stellt Pechmann Peter bei seinen Ermittlungen nämlich die lebenslustige Dolly zur Seite, die Chauffeurin für die Alliance spielt und sich über deren Arbeit amüsiert. Auch Dolly gab es wirklich, doch soll ihre überraschende Identität hier nicht verraten werden. Wichtig ist nur, dass Peters „Gruselgeschichte“ von ihr wie ein Kriminalfall gelesen wird. „Lassen Sie uns ein wenig Detektiv spielen“, schlägt sie ihm vor.
Beide Aspekte von Peters Geschichte sind gleichermaßen gelungen und ergänzen einander. Glaubt man etwa Mrs. Dowden schon auf die Schliche gekommen zu sein, wird durch die Detektivarbeit ein nur übersinnlich erklärbarer Umstand aufgedeckt, der später wiederum durch neue Fakten erklärbar wird. Bis zum Ende (und darüber hinaus) gelingt Pechmann dieser Balanceakt, der Wildes Epigramm von der Unmöglichkeit einer endgültigen Wahrheit aufgreift. Vor allem in Geschichten ist diese Wahrheit unwichtig, was das andere Epigramm in Erinnerung ruft: Kunst muss nichts beweisen, fiktionale Geschichten müssen nicht wahr sein.

Pechmann verhandelt das über Peters Entwicklung zum Erzähler solcher Geschichten und der Fiktion an sich. Als Kind wurde ihm verboten, Romane und Gedichte zu lesen. Stattdessen gab man ihm Lexika und Gelehrtenbiographien. Im Schützengraben bringt Finley ihm „all die herrlichen Abenteuergeschichten“ Stokers, Stevensons und auch Wildes näher. Hier erlebt er, wie die Fiktion in die Realität eindringen, sie beeinflussen kann: Als Finley Le Fanus Geschichte Wylder’s Hand nacherzählt, zeigt er mit seiner eigenen Hand, wie die Hand des toten Wylder aus dem Boden ragt. In diesem Moment wird Finley in die Hand geschossen. In der Alliance wird Peter dann in einem nächsten Schritt selbst zum Geschichtenerzähler. Auch das geschieht über das Motiv einer Hand, die zwei Welten mit einander verbindet. Diesmal ist es nicht Wylders, sondern Wildes Hand.
Denn Mrs. Dowdens Protokoll entstand real und entsteht im Roman durch automatisches Schreiben und gestützte Kommunikation: Peter als Medium hält einen Stift und Mrs. Dowden legt ihre Hand auf Peters Schreibhand. Haben beide Kontakt zur Schattenwelt, wird die Schreibhand wie von selbst über das Papier gelenkt und Zeichen formen sich. Mrs. Dowden und Peter gelingt dies jedoch so gut und Wilde zeigt sich so gesprächig, dass nicht bloß Zeichen erkennbar werden, sondern zusammenhängende Sätze. Der Geist antwortet sogar auf Fragen. Etwa warum er Kontakt aufgenommen hat: „Die Welt soll erfahren, dass Oscar Wilde nicht tot ist.“ Und warum er die Natur vermisse: „Ich war immer schon einer von denen, für die die sichtbare Welt real ist.“ Und auch ‚Lily‘ erwähnt der Geist.
Doch Peter zweifelt, ob das wirklich Wilde ist, der da aus ihm gesprochen haben soll. Hat Mrs. Dowden die Eingebung gefälscht? War es vielleicht wirklich ein Geist, aber nicht jener Wildes, sondern ein anderer, der sich nur für den Schriftsteller ausgegeben hat? Er fragt sich, ob diese Geistergeschichte wahr oder Fiktion ist und was er von ihr halten soll, wenn sie fiktional wäre. Diese Zweifel geben dem Roman auch seinen Namen.
Frank Bunyan, der Peter die Alliance empfohlen hat, sagt, dass Wildes Schulfreunde ihn Nebelkrähe genannt hätten. Pechmann greift mit diesem grauschwarz gefiederten Vogel vermutlich das Induktionsproblem auf, also die Frage, wie Karl Popper sie in Logik der Forschung zusammenfasst, „ob und wann induktive Schlüsse berechtigt sind“.

Ein induktiver Schluss ist ein „Schluß von besonderen Sätzen, die z.B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien“. Als Beispiel, warum dieser Schluss ein ‚Problem‘ ist, nennt er Schwäne: „Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind.“ Etwas später, als er einen Typ des allgemeinen Satzes, den Allsatz, „d.h. […] eine Aussage über unbegrenzt viele Elemente“ definiert, gibt Popper ein anderes Vogelbeispiel: „Negiert man einen Allsatz, so erhält man einen universellen Es-gibt-Satz (und umgekehrt); z. B.: ‚Nicht alle Raben sind schwarz‘ ist äquivalent mit: ‚Es gibt nichtschwarze Raben‘.“
Pechmann gibt ein nahezu identisches Beispiel. Frank, der Physiker ist, erklärt Peter, dass die Fortschritte der Wissenschaft auch das Jenseits nicht verschonen werden. Es sei nur eine Frage der Zeit, „bis uns die sprichwörtliche weiße Krähe ins Netz geht.“ Er führt weiter aus, dass wir davon ausgehen, „dass alle Spukphänomene Halluzinationen, alle Spiritisten Betrüger und alle Krähen schwarz sind. Doch um die letzte Behauptung zu widerlegen, braucht es nur eine einzige weiße Krähe.“
Und Wilde, die Literatur und die Nebelkrähe mit ihrem grauschwarzen Gefieder stehen zwischen diesen weißen und den schwarzen Krähen. Anders als Popper, der das Induktionsmodell der Erkenntnis vor allem für wissenschaftliche Hypothesen ablehnte, wollte Wilde die Literatur vom Zwang des Beweisens befreien. Ein anderes Epigramm aus Dorian Gray: „The artist can express everything.“

Darum geht es Pechmann: Statt auf die Sichtung der weißen Krähe zu warten, lieber den Flug der Nebelkrähe bewundern. Und in Pechmanns tollem Buch fliegt sie in wunderschönen Bahnen und auch die Landung gelingt ihr ausgezeichnet. Ohne dieses Ende zu verraten, soll Dolly es in seiner Essenz zusammenfassen: „Wenn die Illusion uns etwas gibt, was die Wirklichkeit uns nicht geben kann, ist sie ein Geschenk, für das wir dankbar sein sollten.“

Alexander Pechmann Die Nebelkrähe
Roman.
Göttingen: Steidl, 2019.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-95829-583-4.

Rezension vom 19.03.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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