Im Eingang, die Tinte
„Werfen wir einen Blick auf den Mann, der sich unserer Wahrnehmung nun nicht mehr entzieht. Sein Name ist Heinrich, er steht stark in den Fünfzigern. Zumindest wirkt er so. Zumindest wird er so gerufen.“ (5)
Am Anfang des Romans steht die Wahrnehmung. Noch davor die Tinte. Eine Form, die Inhalt spiegelt. Hans, der Protagonist von Die Natur der Dinge, genannt Heinrich, wird von Frau und Schwiegermutter aus dem Haus geworfen. Nur für ein paar Tage natürlich, denn ein Umbau steht vor der Tür und ein Gutschein für einen Gratiskurs an einer Akademie war übrig. Eine Win-Win-Situation für alle außer Hans oder Heinrich, denn jener landet in einem Schreibkurs, der sogleich filmreif beginnt: Vier markante Charaktere in einem Seminarraum. Eigentlich hätten es fünf sein sollen, aber der Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten muss sich entschuldigen. Ein medizinischer Notfall, so scheint es, bis eine attraktive junge Dame vor dem Fenster erscheint und ihm verheißungsvoll zuwinkt. Der Rest der Gruppe bleibt. Darunter eine lebensfrohe Hermynia, die den Spitznamen Herma bevorzugt, und aus bäuerlichen Verhältnissen sowie einer schlechten Ehe kommt. Die andere Dame stellt sich als Frau Oberstudienrätin Professor Rottmann vor. Sie möchte ein Kinderbuch über eine Ratte namens Raphaela schreiben. Natürlich ein unverstandenes und dementsprechend einsames Wesen. Die Ähnlichkeit von Schöpferin und Geschöpf bleibt Hans, der mit Schrecken feststellen muss, dass diese Person eine Bekannte seiner Frau ist, nicht lange verborgen. Er selbst präsentiert eine autobiografische Lüge. Dass diese gegen die Tinte nicht lange bestehen wird, ist kein Geheimnis.
Glorreiches Mittelalter
Mit der ersten Übung legt der Dozent sogleich seine Finger in alte Wunden: „Sie dreht sich um die Frage, wie der Stoff beschaffen sei, aus dem einer gemacht ist.“ (35) Die Eltern sollen skizziert werden, beginnend mit dem Vater. Ein Thema mit Geschichte. Bereits in der ältesten überlieferten germanischen Heldensage, dem Hildebrandslied, festgehalten Anfang des 9. Jahrhunderts in deutscher Sprache, wird der Vater-Sohn-Konflikt dargestellt. Hildebrand musste in den Krieg ziehen und Frau sowie Kind, genannt Hadubrand, zurücklassen. Jahre später begegnen sich Vater und Sohn auf dem Schlachtfeld. Der Krieg ist eine Familienangelegenheit geworden. Georg Thiel reiht seine Geschichte in eine literarische sowie onomastische Tradition ein. Der Name des Vaters ist Hermann. Hans, genannt Heinrich, begegnet ihm zwar nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im eigenen Haus, doch kehrt der Vater nie wirklich aus dem Krieg zurück. Viel mehr bringt er den Krieg wie eine Art Andenken mit in die Familie. Zudem wird der Vater kaum wie eine reale Figur beschrieben. Sein Gesicht ist entstellt. Ein Riese mit Gesichtstätowierung wie es scheint. Eigentlich handelt es sich um eine gequälte Seele, die vom Kohleabbau während der russischen Kriegsgefangenschaft gezeichnet wurde, doch der Krieg ernährt sich bekanntlich selbst und so kommt es, dass der Vater Zuchtmethoden und Zukunftspläne für den Jungen schmiedet. Kerben entstehen in Hans Biographie wie Male im Gesicht des Vaters.
Autorität und Gehorsam
Hans Vater sorgt auch dafür, dass der Junge die Schule abbricht und stattdessen bei dem Rüstungskonzern Parabellum zu arbeiten beginnt. Dort begegnet er Mondsperg, dem Generaldirektor der Firma, der bald auch sein Mentor sein sollte. Der Alte, wie Mondsperg meist genannt wird, gibt Hans die Chance sich zu beweisen und ködert ihn: „Függe werde viel von der Welt zu sehen bekommen und auf interessante Menschen stoßen.“ (114) Er will aus Hans seinen Sekretarius machen – ein Angebot, das kein reines Geschenk darstellt. Natürlich ist es für den jungen Mann eine Möglichkeit, aus den bestehenden ärmlichen Verhältnissen fliehen zu können, doch ist die Einwilligung gleichzusetzen mit dem Verkauf der Seele. Nicht einmal der schwarze Hund fehlt, als ihm Mondsperg sein Angebot unterbreitet. So muss Hans für die Flucht aus seinem eigenen Leben mehr aufgeben, als er gewinnt. Mondsperg lässt ihn zwar Fortbildungen machen, doch müssen diese im Sinne der Firma sein. Eine Matura, die Hans über den zweiten Bildungsweg nachholen möchte, gehört nicht zu den Interessen der Firma. Im Gegenteil, sie werde als kontraproduktiv erachtet. Warum das der Fall sei, wird nicht dargelegt. Möglicherweise soll er sich dadurch stärker auf die Arbeit konzentrieren. Möglicherweise ist es jedoch auch ein Mittel, um den angehenden Sekretarius von der Firma abhängig zu machen und jede Form von eigenständigem Denken zu unterdrücken. Letzteres sei nämlich, das lässt die manipulative Autorität Mondsperg in ihrer Besprechung klar durchblicken, keinesfalls erwünscht. Der schwarze Hund muss dies untermauern.
„Doch das führe im Augenblick zu weit. Wichtig erscheine ihm, festzuhalten, dass Függe bei dieser Tätigkeit tiefe Einblicke in die Natur der Dinge gewinnen werde.“ (114)
Die Welt der beiden Figuren Herma und Hans verdreht den Rezipientinnen und Rezipienten den Magen. Manche Bilder brennen sich regelrecht ins Gedächtnis ein. Die Natur der Dinge ist ein Roman, der bleiben wird und doch noch ein wenig mehr Potential gehabt hätte. Über drei Tage hinweg hangelt sich der Protagonist Hans Függe von Erinnerungsfetzen zu Erinnerungsfetzen, wird dabei immer wieder unterbrochen und kann interessanten Stellen in seinem Schreiben nicht jenen Raum geben, den sie eigentlich verdienen. Ein Umstand, der durch den Rahmen des Schreibkurses zwar verständlich, aber nicht unbedingt leichter erträglich ist. Beim nächsten Mal wäre dem vielleicht mit einer höheren Seitenzahl beizukommen.