Es wird bereits Nacht, als sich sieben geladene Gäste auf einem Hausboot auf der Morawa, einem Zufluss der Donau, einfinden, um der Erzählung des Gastgebers zu lauschen, der Erzählung einer Reise ans Ende der Nacht. Samara sollte dieses neue Werk Peter Handkes ursprünglich heißen, samara, das bedeutet „die Nacht im Gespräch verbringen.“
Tiefblau ist der Umschlag dieses „nächtlichen Buches“. „Nicht wenige solcher nächtlicher Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebens verfasst, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. In nichts? Wirklich?“
Nein, „das Buch gab es irgendwo.“ Und es erzählt dir eine lange Geschichte eines Unterwegsseins, einer europäischen Rundreise, doch ohne Namen, „Namen tun nichts zur Sache“, ohne dramatische Situationen, ohne Charaktere, dafür voller „Traumstoffgestalten“, voller „zitternder knisternder (…) Sekunden“, die „das Gefühl für das Dasein“ zeitigen.
„Das Buch von deiner europäischen Rundreise: Ich werde es schreiben. Es ist zum Großteil schon geschrieben, fertig, bevor du aus deiner Morawischen Nacht überhaupt aufgebrochen bist.“ höhnt Melchior, der „schreibende Arrangeur“, den der Erzähler auf seiner Wanderung trifft: „Und du, mein Teuerster: auf den Müllhaufen mit der Geschichte mit dir. (…) Wenn es einmal hieß, Dichten gleich Bildermalen, so heutzutage: Büchersprache gleich Journalsprache.“ Und tatsächlich sollte Melchior seine Drohung wahr machen, noch auf der Rückfahrt fällt der Blick des Erzählers auf einen Zeitungsartikel über seine Rundreise, die laut dem Zeitungsschreiber nichts weiter war als eine Flucht vor sich selber. „Dass er allein dem Abseitigen nachgegangen war,“ wirft er dem Reisenden vor.
Na, und wenn schon. „Hatte er auf diese Weise nicht auch seine Bücher geschrieben? ‚Nie was von Utopia gehört?‘ “ kontert der nächtliche Erzähler. Trotzdem regen sich auch bei ihm Zweifel: „Den Dichterberuf, gab es ihn weiterhin?“ Seinerzeit war er „bedürftig gewesen nach dem Augenblick der Poesie“. Er hatte „ihn von den eigenen Rändern oder Grenzen lautlos zurückgerufen in die Mitte des Lebens – zurück zur Prosa – zum Prosaschreiben.“ Handke, der Dichter der entzauberten, der un-heimlichen Welt, er sehnt sich zurück nach der Heimlichkeit: „zeig mir den Ort, wo du verborgen bist!“ Seinerzeit hatte er ihn in der Dichtung gefunden, in der Einsamkeit, dem Unterwegssein, den Träumen, alles Enklaven, allesamt „Flucht- und Trutzburgen“ gegen die Unheimlichkeit der Wirklichkeit, der Handke die Heimlichkeit des Erzählens entgegensetzt, das genuin Poetische, das Märchenhafte, Erträumte, Unerhörte, „Klein-kleine“, das Abseitige, das Leben: „Leben, leben!“ Nicht zuletzt von solch einer Rückkehr zum Leben, zum Dichten, erzählt dieses Buch. Der Weg dorthin ist weit, voller Umwege und Verzögerungen. Doch, „so war es beschlossen, so war es gedacht.“
Aus einer (serbischen) Enklave (im Kosovo, wie der Leser in Gedanken ergänzt), macht sich der ehemalige Autor in einem Emigrantenbus auf nach Westen, auf eine Rundreise quer durch Europa. Sie führt ihn an seine ehemaligen Schreiborte, in das Schreibdorf auf Krk, hier verborgen hinter dem phantastischen Namen Cordura, wo er, damals noch Möchtegernschriftsteller, seiner ersten Freundin begegnete und dadurch auch erstmals zum Betrüger wurde, an ihr und an dem „erträumten, tagtäglich zu erträumenden Buch“. Denn Schreiber, Aufschreiber und zugleich Liebhaber und Geliebter zu sein, „beides zusammen, das war die Strafwürdigkeit. Entweder Oder.“ Wenn er ein Schreiber werden wollte, musste er sich heraushalten, sich mit der Nichtzugehörigkeit, dem Ausgestoßensein verbünden. Ja, er hatte „ein Dritter zu sein, und nicht Teil eines Paares.“
Doch seitdem war viel Zeit vergangen, der Erzähler hatte sich von seiner „Autoren-, seiner Aufschreibzeit“ losgesagt. Zu schwer hatte die Schuldhaftigkeit seines Poetenlebens auf ihm gelastet, und so hatte er sich davon befreit: „er musste nicht mehr schwindeln, nicht mehr verraten. Er war aus dem Gesetz, dem furchtbaren, süßen, entlassen.“ Und mit seinem selbstgewählten Scheitern als Autor fühlt er sich endlich bereit „für eine, für die Frau.“ Eine Liebesgeschichte würde er schreiben, so prophezeiht es ihm der spanische Dichter Juan Lagunas. Und tatsächlich sollte sie eintreten, die Liebesgeschichte, als „unerhörte Begebenheit“, im Zusammentreffen zweier „Waisenkinder“, des ehemaligen Autors und der geheimnisvollen Frau, die auch in der Nacht der Erzählung zugegen ist.
Doch bevor sie gemeinsam auf das Boot, die „Morawische Nacht“, zurückkehren können, muss der Ehemalige seine Wanderschaft wie „geträumt, gedacht, geplant“ fortsetzen. Sie führt ihn nach Deutschland, „In die Gegend des Vaters und der väterlichen Vorfahren“, die er, der „Vaterlose Gesell“, der „Prinz von Nirgendwo“ nur vom Mutterwort her kannte. Und von dort weiter in sein Geburtsland Österreich, das ihm „zum Feind geworden war“, wo er nun aber seinen Bruder besuchen will, sowie seine ehemaligen schriftstellernden Weggefährten Filip Kobal und Gregor Keuschnig, die der Handke-Leser aus Die Stunde der wahren Empfindung und Die Wiederholung kennt. Auch seine verstorbene Mutter aus Wunschloses Unglück erscheint ihm im Traum und spricht ihn endlich los von der Last seiner Schuld: „Du bist unschuldig, du dummer Kerl.“
Ja, so führt diese Rundreise nicht nur quer durch Europa, sondern auch quer durch Handkes bisheriges Schaffen, durch sein Leben und Schreiben, das bei ihm verbunden scheint durch ein drittes: durch die Lebenssuche, die Suche nach der wahren Empfindung. Die morawische Nacht ist eine Erzählung über das fortwährende Unterwegssein als beides –Antrieb und Ziel des Schreibens, eine Erzählung über das Erzählen, über die Leben spendende Kraft des Erzählens. Geprägt von Handkes Subjektivität, ichbezogen, wie immer, doch nicht nur; in diesem Werk reflektiert Handke nicht nur sein eigenes Schreiben, sondern auch die Reaktionen der Öffentlichkeit. Klug, sprachgewaltig, nachdenklich, doch auch wunderbar ironisch befragt Handke seine Rolle als Dichter, als öffentliche Figur, als die er sich durch seinen Einsatz für Serbien ins Abseits befördert hat. Passend zum aktuellen politischen Anlass, der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, nimmt er in diesem Buch Abschied von seiner „Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa.“
Unverkennbar sein Ton, seine mäandrische, ausufernde, stammelnde, zögerliche, sich selbst befragende Erzählweise, unfähig, mit seinen Sätzen „in medias res“ zu gehen, angestachelt nur durch die Gefahr – Welche? – der Verfolgung durch die Leserin? Des Stillstands? Der Entrücktheit? Die das Lesen ersetzt, erübrigt? Und ihn zwar der „Last des eigenen Ich“ enthebt, jedoch jedes Erzählen bedroht, das ja ein „beständiges rhythmisches Fort-und-Fort“ sein muss?
„Gibt es noch Märchen zu erzählen wie die deinigen?“, fragt der Erzähler bang den Wiener „Zaubermärchenschreiber“ Ferdinand Raimund. „Nein. Oder bestenfalls in Bruchstücken, Märchen, die eine Sekunde dauern.“ Und Die Morawische Nacht ist ein solch wunderbares Märchen des verwandelnden Augenblicks, es schenkt dem Leser „Ermutigung, Trost, Furcht und Bezauberung, kurz, alles was ihr wollt, und vielleicht auch jenen flüchtigen Augenblick der Wahrheit, nach dem zu fragen ihr vergessen habt“ (Joseph Conrad)