Nach seinen beiden gefeierten Romanen Söhne und Planeten und Die Frequenzen war viel von diesem „Wunderkind“, „Junggenie“ und „Hoffnungsträger der deutschsprachigen Literatur“ die Rede. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen, als er nun im Suhrkamp Verlag seinen ersten Erzählband mit dem Titel Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes publizierte. Dementsprechend war auch die Fallhöhe. Würde er die riesigen Kleider, die er sich angezogen hat, auch ausfüllen können? Die passende Antwort darauf gab Iris Radisch: „Vielleicht ist es auch gut, sich zu große Kleider zu kaufen, wenn man noch wächst“, schrieb sie in der Zeit.
Und wachsen, das wird er. Ein weiteres Romanmanuskript soll er schon fertig in der Schublade haben, einen Lyrikband auch. Täglich zwischen sechs und zehn setzt er sich an seinen Schreibtisch.„Oh, jetzt bin ich ein richtiger Autor.“ Dieser Gedanke sei ihm kurz durch den Kopf gegangen, als sein Roman Die Frequenzen 2009 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, mittlerweile sei er aber froh, dass dieses Gefühl weg ist, gesteht er in einem Interview. Und verbannt den Autor Clemens J. Setz in einer Erzählung der nun vorliegenden Sammlung kurzerhand ins Literaturarchiv. In einem Museum seiner selbst wird er neben seinem Vorlass – „da hinten schließlich das Spätwerk, […] der ganze späte Setz“ – in einem „großen, gelben Gitterbett“ gefangen gehalten, „das unterhalb eines kreisrunden, mit weißen Ziegeln verbauten Fensters stand“.
Ein solches „rundes, weißes Fenster“ gibt es auch in der Erzählung „Milchglas“ – Setz liebt das Spiel mit Intertextualität – „es war genauso rund und weiß, wie die Hostie in meinem Mund“, beschreibt der Junge seine Eindrücke beim Empfang der heiligen Kommunion. „Dalleib Christi, sagte Pater Johann und tat dann das Ungeheuerliche, […] er legte mir die kleine, weiße Hostie auf die Zunge.“ Später, allein mit seinen Freunden, sperrt er den Mund auf und zeigt ihnen die unversehrte Hostie. Als einer ihm zu nahe kommt, schlägt er zu. Zum ersten Mal. Aus dem ängstlichen Jungen, der nicht mehr schlafen kann, seit sein Bruder ausgezogen ist, wird ein unberechenbarer Peiniger seines schwächeren Kameraden.
Das böse Kind, das mit aller unschuldigen Grausamkeit spielt und spielend immer wieder jede Ordnung zerstört, gibt den Auftakt zu den folgenden Erzählungen, die gespickt sind von Gewalt in all ihren Spielarten – tätlicher, sexueller, verbaler, inszenierter, symbolischer. Sie erkunden den schmalen Grat zwischen naiv-lustvollem Spiel und tödlichem Ernst. Sie spielen in den „Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel“. Am einsamsten und traurigsten aber sind die Menschen: der Student, der sich Mütter auf auf dem Straßenstrich sucht – Fürsorge wird zur Dienstleistung; die Angestellte, deren Leben plötzlich von einer schwarzen, eitrigen, übelriechenden Patina überzogen und entstellt wird; die Studienabbrecherin in ihrer Wohnung in einem Riesenrad am Stadtrand, mit Blick auf graue Skelette leerstehender Fabrikhallen; der Musikliebhaber, der ausgewandert ist und nun unter einer Glasglocke auf einem fremden Planeten an einem Roboter bastelt, um mit ihm seine Begeisterung für klassische Konzerte zu teilen. Von fern blickt er wehmütig zurück auf die Hauptstädte des alten Europa mit ihrem Kopfsteinpflaster, ihren Monumenten der Erinnerung, ihren Friedhöfen und dem Glockengeläut aus den Kirchen. Surreale Orte, groteske Ideen und unerhörte Begebenheiten findet der Leser in diesem Buch, manche von subtilem Horror, manche von märchenhafter Poesie – wie jene „sehr kurze Geschichte“, in der Lilly nach einem harten Arbeitstag feststellt, „dass auf ihren Schulterblättern kleine Flügel gewachsen waren: schmutzig rosafarbene, verletzlich wirkende Hautgebilde, die wie Gelsenstiche juckten“.
Es sind keine gefälligen Erzählungen, die Setz geschrieben hat, sie sind viel mehr: düstere, grausame und abgründige Tag- und Nachttraumgeschichten, einfühlsam, zärtlich und schelmisch – virtuos orchestriert von einem furchtlosen, sprachgewaltigen Autor, der in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen sucht.