Damit ist das zentrale Motiv von Reicherts Schreibarbeit benannt: „[I]ch wollte immer so schreiben, daß es lesbar war, von einem halbwegs gebildeten Leser zu verstehen, wollte leicht schreiben, als sei es mühelos von der Hand gegangen. Nichts ist schwerer als leicht zu schreiben.“ Nicht das Renommieren mit Wissen und die Konstruktion von – bald mehr, bald weniger kunstvollen – Perioden, sondern Zugänglichkeit und Wirkung sind die Maximen eines Schreibens, das „die Leidenschaft für die Sache […] weitergeben“ will. Demnach könne akademische Diskursförmigkeit gerade nicht das Regulativ für eine Kunst des Schreibens sein, eine Überzeugung, die Reichert – neben anderen Berufen auch Professor der Anglistik – „den Vorwurf des Feuilletonisten eingetragen“ hat. Er hält dagegen, dass die mühevoll erarbeiteten Voraussetzungen für seine einladende Art des Schreibens, die subtile Kennerschaft, die dafür nötig ist, besser „unter der Oberfläche“ des Textes aufgehoben sei. Reichert veranschaulicht die Machart gelungener Texte entsprechend mit einem Bild, das er vom Historiker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen übernimmt und variiert: „Ich habe meine Röcke allerdings stets mit den Nähten inwendig getragen.“ (S. 47f.) Diese Programmatik eines Schreibens in der Übergangszone von Wissenschaft und Literatur bringt zusammen, was gemäß einem nicht sehr alten, aber weit verbreiteten Vorurteil nicht zusammengehört. Die strenge Grenze zwischen literarisch-kreativem und akademisch-diszipliniertem Schreiben sei letztlich nicht haltbar, jedenfalls nicht wünschenswert, schon gar nicht um den Preis stilistischer Güte. Aber auch im Hinblick auf Argumente und Ideen gelte: „Wissen hat noch nie jemandem geschadet, Phantasie auch nicht.“ (S. 49)
Der nun vorliegende Band Die Leichtigkeit des Schweren gliedert sich in zwei Teile. Im ersten – mit der Überschrift Gelehrsamkeit und Poesie. Über das fragende Verstehen – schildert Reichert literarische Bildungserfahrungen im Hören, im Lesen, im Schreiben, angefangen mit seiner frühen Faszination an den Grimm’schen Märchen, an den Psalmen Luthers, an den Kirchen- und Weihnachtsliedern, die mit ihrem „Unverstandenen“, ihrem „Geheimnisvollen“, mit ihrem „Klang des Fremden“ allererst „die Produktivkräfte der Phantasie in Gang setzte[n].“ (S. 13)
Auf die Kindheitslektüren, das Erlernen der lateinischen und der griechischen Sprache in der Schule, auf das alltägliche „Stimmenbabel (oder Gebabbel)“ an Dialekten und Sprachen in der oberhessischen Provinz der ersten Nachkriegsjahre folgen die Etappen seiner literarischen Lehr- und Wanderjahre mit den zugehörigen Städten, Menschen, Sprachen und Büchern: Erste Arbeiten als Zeitungskritiker in seiner Heimatstadt schaffen Zugang zur zeitgenössischen Übersetzungsproduktion und Zeitschriftenliteratur. In Marburg studiert er drei Semester deutsche und englische Mediävistik und arbeitet sich durch die rezenten, nicht vom Nationalsozialismus verseuchten Werke der Romanisten Ernst Robert Curtius und Erich Auerbach.
In London verdingt er sich „als Laufbursche bei einer Großhandelsvertretung für Galanteriewaren“ (S. 24), entdeckt die lebendige Theater- und Musikszene, pflegt Umgang mit zahlreichen deutschen und österreichischen Emigranten und wird von Lionel Blue im rabbinischen „Denken als fragendes Verstehen“ (S. 25) unterwiesen. In Berlin studiert er bei Walter Höllerer und Peter Szondi. Szondi, der ihm die Kunst des Lesens beigebracht habe, empfiehlt Reichert für weitere Studien nach Frankfurt zu Theodor Adorno. Er aber ergreift eine sich bietende Chance und wird Lektor bei Insel/Suhrkamp, zunächst für englischsprachige, niederländische und jiddische Literatur und das Übersetzungssegment. Schon bald betreut er die deutschsprachige Ausgabe der Werke von James Joyce und den Autor Paul Celan; er macht sich um H. C. Artmann und die Wiener Gruppe verdient und präsentiert dem deutschsprachigen Lesepublikum junge amerikanische Lyrik.
Das Kontinuum der Lebenserzählung wird nach den Jahren als Verlagslektor nicht weitergeführt; das Wirken als Professor an der Frankfurter Universität und als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung werden außen vor gelassen. Stattdessen schildert Reichert in liebevollen kleinen Portraits Lehrer und Freunde, berichtet von Begegnungen, Aufgaben, und Kooperationen, erzählt von Erkenntnissen beim Lesen, aber auch beim Reisen, etwa von der Fahrt „mit einem Mietwagen zu den Jordanquellen“ (S. 97), um dort die rechten Worte für die Übersetzung des alttestamentlichen Hoheliedes zu finden. In den autobiografischen Passagen verlässt Reichert bisweilen nicht unironisch die Ich-Form und lässt sich selbst als literarisierte Figur agieren: So war London „für den jungen Mann aus der Provinz Abenteuer und Lehrstück zugleich“ (S. 24) und die Herausforderungen für „den jungen Dachs“ (38) inmitten der großartigen Lektoren und berühmten Autoren bei Insel/Suhrkamp waren keine kleinen.
Reicherts Lebenserzählung bietet erwartungsgemäß auch eine Reflexion auf die Entwicklung seines Schreibens: Erste „Schlüsselerlebnis[se]“ (S. 14) seiner Schreibbiografie werden berichtet; die Gründe für Schreibblockaden und ihre Lösungen (einmal hilft Freuds Traumdeutung, einmal der Lektoratsjob) werden thematisiert; die Gattungen seiner Schreibarbeit werden durchgegangen von Rezension, Klappentext, Nachwort und Theaterzettel bis hin zu wissenschaftlichem Aufsatz, Abhandlung und Essay. Insbesondere dem Essay wird als Form des Schreibens Aufmerksamkeit geschenkt. Diese von Reichert favorisierte Gattung ist Desiderat und Verlegenheit der deutschen literarischen Tradition, in der sie sich mit wenigen Ausnahmen nie recht habe etablieren können. Ferner gibt es an den vermeintlichen Tugenden des zünftigen Schreibens in der akademischen Welt einiges zu monieren: Stoffhuberei etwa und die dadurch erzeugte Text- wie Selbstvergessenheit angesichts manchmal brauchbarer, manchmal mittelmäßiger Sekundärliteratur. Dagegen werden dann aber doch zahlreiche Stilvorbilder gewürdigt, unter ihnen die ganz großen: „Goethes Fachprosa, die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Georg Simmel, Freud, Blumenberg“ (S. 8).
Die konsequente Achtung stilistischer Ideale hängt laut Reichert mit Konzentration im Denken zusammen, weshalb „das eigene Schreiben sehr langsam vonstatten ging. Immer mit der Hand in winziger Schrift, denn nur so konnte ich denken, und ich wußte erst, was ich dachte, wenn ich es aufgeschrieben hatte.“ (S. 8) Die wechselseitige Verwiesenheit von Schreiben und Denken, die Klärung der Gedanken, die dem Schreibprozess nicht äußerlich oder gar vorgängig, sondern immanent sei, wurde in den Publikationen der Grazer Vorlesungsreihe bereits von Konrad Paul Liessmann betont als Kleist’sches Szenario einer „allmähliche[n] Verfertigung der Gedanken beim Schreiben“. Reichert erweitert diese These um einen für ihn zentralen Aspekt: die Sprachen der Welt und ihre je spezifischen Möglichkeiten. Während der Philosoph Liessmann bei früherer Gelegenheit (Theorie der Unbildung, 2006) unter Berufung auf Nietzsche die (exklusive) Pflege der eigenen Sprache mit ihrem „Nuancenreichtum“ als Mittel der Wahl gegen die raumgreifende Dynamik des internationalisierten Englisch in Anschlag bringt, setzt Reichert auf Basis seiner Erfahrung als Sprachenlerner, Leser und Übersetzer nicht nur auf den jeweiligen Eigensinn, sondern auf die sich ergänzende Vielfalt der Sprachen: „Jede neue Sprache bedeutete eine neue Welt, veränderte aber auch den Blick auf die eigene.“ (S. 7) Die Grenzen und Möglichkeiten des Deutschen werden in Begegnung mit anderen Sprachen ausgelotet – und mitunter erweitert. Reichert behauptet das nicht bloß. Er verdeutlicht es anhand konkreter Beispiele, besonders anschaulich im Vergleich mit dem Englischen und mit dem Bibelhebräischen.
Den Schreibprozess selbst verbildlicht Reichert zunächst als Schachspiel: „jeder Zug, jeder nächste Satz muß daraufhin durchdacht werden, welche Folgen er haben kann, welche Optionen er öffnet oder verschließt.“ (S. 46) Manchmal führe das Schreiben aber auf halber Strecke in Sackgassen. Dann könne ein spontaner Neubeginn mitten im Text Abhilfe schaffen. Diesen Kunstgriff könne man sich aus Franz Schuberts mutigen Abbrüchen und Neueinsätzen ablauschen. Wenn im eigenen Schreiben hingegen gar nichts mehr geht, biete das Übersetzen „Entlastung“ und fördere durch Konkretion die Konzentration: der Text ist vorgegeben, die Probleme sind begrenzbar, die Lösungen meistens „handwerklicher Natur“ (S. 39). Die verschiedenen Sprachen im Ohr erweitern unterdessen die paradigmatischen Möglichkeiten einer Schreibarbeit, deren Logik – nach Schach und Musik – nunmehr synästhetisch als Malerei vorgestellt wird: „Jede neue Sprache ergänzte nicht nur meine Farbpalette, sie ließ auch jede schon vorhandene in anderer Beleuchtung, anders gebrochener Chromatik erscheinen. Es ist mehr als nur ein Spiel, durchzuprobieren, wie Wörter und Wendungen, während ich sie auf deutsch schreibe, in einer anderen Sprache lauten würden und ob sich vielleicht eine Nuance der anderen Sprache in der eigenen unterbringen ließe.“ (S. 56) Angesichts der Verdrängung einer früher in intellektuellen Zusammenhängen wie selbstverständlichen Mehrsprachigkeit konstatiert schließlich auch Reichert die fatale Entwicklung hin „auf eine sprachliche Monokultur“ (S. 56) und moniert die gedanken- und stillose Ausrichtung der Bildungsinstitutionen auf „das Englische, oder was sie dafür halten“. (S. 57) Gerade für den Anglisten Reichert ist das der nicht nur topisch beklagte „traurige Abschied von einer Welt von Gestern.“ (S. 9)
Die elegischen Elemente in der Vorlesung des 1938 geborenen Reichert sind maßvoll gesetzt. Die spürbare Begeisterung für Literatur und Wissen lässt keine falsche Sentimentalität zu. Der zweite Abschnitt des Buches mit dem Titel Der Esel auf dem Eis. Über die Aporien des Übersetzens führt zu den Höhepunkten einer Kulturgeschichte des Übersetzens und in die Schwierigkeiten und Entscheidungen in der eigenen Übersetzungsarbeit. Rhetorisch konstruiert ist dieser Teil als Widerlegung eines landläufigen Vorurteils, wonach Übersetzen nichts anderes sei als (quasi) „‚[d]asselbe mit anderen Worten sagen‘“ (S. 59). Dass dem nicht so ist, wird sogleich am ersten Satz aus dem Lateinbuch („Rhenus fluvius est.“) demonstriert; danach folgt eine Reihe eindrucksvoller Wegmarken europäischer Übersetzungen. Zuerst jene des Tanach – ins hellenistische Griechisch (Septuaginta), ins Lateinische (Vulgata) und in ein Deutsch (Luther), das „wir noch heute sprechen.“ (S. 69) Solche in ihrer Zuspitzung – zumindest aus Sicht der historischen Sprachforschung – nicht ganz haltbaren Formulierungen sind Effekt einer heroischen Übersetzungsgeschichte in epochalen Leistungen, die für die hebräische Bibel bis zu Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Großunternehmung Die Schrift reicht. Reichert erläutert neben den literarischen auch theologische Dimensionen dieser Übersetzungsprojekte und die mit ihnen ausagierten Kontroversen – denn Luther war wie schon Hieronymus „ein grober Klotz“, der es „verstand auszuteilen.“ (S. 69)
Auch im säkularen Segment der Literatur geht es Reichert um Meilensteine: Neuzeitliche Übertragungen Homers etwa und die Arbeit an einer dem Epos angemessenen Verssprache in den neueren europäischen Literaturen; oder die Übersetzungen Shakespeares in eine erst durch die Übersetzung geschaffene dramatische Prosa in deutscher Sprache (Wieland) oder in die Verssprache der Weimarer Klassik (Schlegel, Tieck); ferner werden die großen Leistungen „der Geniezeit des Übersetzens um 1800“ (S. 81) gewürdigt und spätere Husarenstücke wie der Dante von Rudolf Borchardt.
Die theoretischen Schlüsse aus dieser Geschichte sind für Reichert klar: „Wir müssen Abschied nehmen vom Äquivalenzprinzip, von Treue, von Kompatibilität, von Angemessenheit“. (S. 79) Er schlägt dagegen die Vision „von einer Entkolonialisierung der übersetzerischen Intention“ vor, „das heißt: die Rechte der fremden Sprache zu respektieren und ihr ein Heimatrecht in der eigenen anzubieten.“ (S. 80) Wie so etwas gehen kann, welche Probleme beim Übersetzen begegnen und welche Dimensionen der Schreibarbeit im Allgemeinen sich dabei klären, wird zuletzt in der Diskussion eigener Übersetzungen aus den vergangenen sechs Jahrzehnten angedeutet – herausgehoben werden Joyces Ein Portät des Künstlers als junger Mann (1972), Das Hohelied Salomos (1996) und die Sonette Shakespeares (2005), aber auch die frühen Bände mit Gedichten von Robert Creeley (1964) oder von Charles Olson (1965) werden gewinnbringend – etwa hinsichtlich der Körperlichkeit des Übersetzens von Rhythmus – besprochen.
Den Band beschließt eine kleine Anzahl kürzester Parerga, überschrieben mit Lose Fäden, Themen, Gedanken. Es sind Notizen zu Babylon und zur rabbinischen Methode, Zitate von Johannes von Salisbury, Paul Clean, Gertrude Stein und Esther Kinsky. Über die Funktion dieser kleinen Sammlung gibt der Band keine Auskunft. Als Anreize zum Weiterdenken oder zum Zurückblättern wirken sie allemal.
Manches aus der Leichtigkeit des Schweren lässt sich anderswo ausführlicher nachlesen. Das gilt insbesondere für Reicherts Lebensthemen: das Übersetzen etwa (Die unendliche Aufgabe, 2003), die Frage nach gutem Lesen (Lesenlernen, 2006), das Werk von James Joyce (Vielfacher Schriftsinn, 1989; Welt-Alltag der Epoche, 2004) oder jenes von Shakespeare (Der fremde Shakespeare, 1998). Anderes hätte man sich gewünscht, so erfahren wir nichts über das im engeren Sinn literarische Schaffen des Autors Reichert in Gedichten (Kehllaute, 1992; Wär ich ein Seeheld, 2001) oder Reiseberichten (Wüstentage, 2006; Türkische Tagebücher, 2011). Die Grazer Vorlesungen bieten aber neben neuen Überlegungen und Anekdoten zur Kunst des Schreibens Einblick in das Kontinuum von Lesen, Schreiben und Übersetzen im Lebenszusammenhang eines Homme de Lettres im vollen Wortsinn. Der Band ist die hinreißende Erzählung von Erfahrungen und Erkenntnissen eines begnadeten Literaten und Meisters der leichten Hand.