#Roman

Die Landgeherin

Hans Haid

// Rezension von Bernhard Oberreither

Landgeher, das sind Vagabundensippen mit langen, verworrenen Genealogien: Oft beginnen sie mit einem verarmten Bauern, dessen Nachkommen Haus und Hof verlassen müssen, um ihr Auskommen als fahrendes Volk zu suchen. Unter ihnen finden sich Geschirrhändler, Scherenschleifer, Regenschirm- und Kesselflicker, Heilerinnen, Prostituierte und Zuhälter. Einer solchen Landgehersippe folgt Hans Haid in seinem neuen Roman auf ihrem Weg in die Heimatgemeinde, wo sie zu Winteranbruch auf Unterschlupf hoffen. Von den Bewohnern der Dörfer selten geduldet, vom Kälte und Hunger geplagt, ist das ein beschwerlicher Weg. Auch der trinkende, gewalttätige Vater der Sippe macht das Leben nicht einfacher.

Während die restliche Familie trotz allem zusammenbleibt bis zum bitteren Ende, trennt sich die Tochter Ana von ihnen; sie führt den Leser in einem zweiten Handlungsstrang durch die Berge, auf der Suche nach heiligen Orten, von denen sie gelesen hat, Wallfahrtskirchen, vor allem aber nach den heiligen Frauen: den Saligen, sagenhaften Wesen, die in den Gletschern hausen. Während rund um Ana die alten Mythen langsam in Vergessenheit geraten, hält sie dieses Wissen hoch. Sie verschwimmt selbst mit mythischen Figuren; in ihr verbinden sich Altes und Neues, die überlieferte Sagenwelt und katholische Heiligenviten, das urtümliche Naturwissen der Fahrenden und die konventionelle Gläubigkeit der Dörfler.
Das ist der Kern von Haids Unterfangen: Mit den Landgehern stellt er die Ausläufer einer untergehenden Kultur in den Mittelpunkt. Das Wissen um das Leben in den Bergen, die eigene Herkunft, um das Handwerk der Heilerinnen – was Haid hier mit großer Geste beschwört, fällt mitsamt den restlichen mündlichen Überlieferungen der Modernisierung, der Industrialisierung und Landflucht zum Opfer. Bald sind auch die letzten Nachfahren der alten Landgeher bloß noch Tagelöhner in den k.u.k. Ziegelfabriken, sind der Bevölkerung auch noch die letzten alten Mythen von der katholischen Kirche ausgetrieben worden.

Haid hat sich schon mehrmals, zuletzt in seinem Buch zu Naturkatastrophen in den Alpen, mit der ungastlichen Seite der Berge beschäftigt. Auch die Landgeher werden vertrieben, hungern tagelang, ihre Kinder erfrieren oder kommen gleich tot zur Welt; Ana fällt öfters üblen Zeitgenossen in die Hände. Und doch: In all den Hässlichkeiten scheint für Haid eine „Echtheit“ durch, die anderswo nicht mehr zu finden ist, findet er etwas Romantisches und damit einen Grund, gegen alles zu Felde zu ziehen, was die erdige Welt der Landgeher zu ersetzen droht – vom Katholizismus bis zum Schitourismus.
Um an dieser Stelle keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das waren auch bisher keine Charaktere im engeren Sinn, keine sorgsam ausstaffierten Psychologien oder Spannungsbögen, denen der Leser da gefolgt ist, sondern grob gezeichnete, illustrative Typen und eine gut recherchierte Alpentristesse. Wenn der Erzähler sich hier also endgültig vor seine Geschichte drängt, überrascht das nicht: Seine Figuren sind ohnehin bloß Platzhalter. Anzuerkennen ist dabei der bemerkenswerte Reichtum an Details der dargestellten Gegenwelt, die Fülle an überliefertem Vokabular und Brauchtum. Man kann auch anerkennen, dass er die Schattenseiten dieser untergehenden Welt nicht unterschlägt, wird allerdings spätestens dann stutzig, wenn klar wird, dass Haid ihr dennoch den Vorzug gibt – weil sie einfach urtümlicher, „echter“ ist.
Dieser Antimodernismus schwillt im Verlauf des Buches zu einem Sermon an: Haid wettert gegen bürgerliche Beschränktheit, Fortschrittsglaube, nicht zuletzt gegen den Katholizismus mit all seiner Scheinheiligkeit – und bringt den Leser (beabsichtigt?) gerade dadurch in die höchst katholische Position dessen, der in Büßerhaltung eine Strafpredigt über sich ergehen lassen muss. So eine Strafpredigt kann natürlich nicht angenehm sein: Den Leser erwartet so manch erschütternde Überlieferung (Hirtenbuben trieben es mit Ziegenböcken!), so manch harsches Urteil (wörtlich, zum Bergtourismus: „überall Wellness und Unzucht“) und so manche urige Ekelhaftigkeit (wie die Legende von der „Langtüttin“: einer Saligen, aus deren Brüsten Milch und Eiter rinnen).
Dabei ist es nicht einmal die offensichtliche Freude des Autors am Ungustiösen – denn auch das ist wohl „urtümlich“ –, sondern die starke Redundanz, die den Leser zermürbt. Mittels Formelhaftigkeit und Wiederholung lässt Haid das Ritual mündlicher Überlieferung und Beschwörung anklingen. Diese Übertragung funktioniert nur begrenzt: Manchmal bestrickend, erinnert sie jedoch meist an einen überlangen Rosenkranz, was dem Kampf des Autors gegen die Frömmelei eine weitere ironische Note gibt.

Am Ende sind Ana und ihre Familie tot; der Leser weiß unter anderem, dass im Fortschritt der Teufel sitzt, dass der Katholizismus auch nicht besser ist, dass die meisten Männer in den Bergen zu Vergewaltigern oder Säufern werden, die Frauen dafür zu Heiligen oder Huren, dass es den geizigen Bergbauern schon recht geschieht, dass der Bergtourismus der schnellste Weg in die Verdammnis ist und dergleichen mehr. Und die Berge beuteln endzeitlich den Menschen von ihrem Buckel und alles windet sich in Agonie. Und überall Wellness und Unzucht.

Hans Haid Die Landgeherin
Roman.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2011.
188 S.; geb.
ISBN 978-3-85218-683-2.

Rezension vom 01.09.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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