Auch Martin Kubaczek, dessen Roman Die Knie meiner Mutter und mein Vater im Krieg soeben erschienen ist, erweist sich als liebevoller Sohn, der sich intensiv und differenziert mit seinem bald 90 Jahre alten Vater auseinandersetzt und im Abschied eine ganz neue Art von – auch körperlicher – Nähe zu ihm findet. Eine Nähe, die es zwischen Männern dieser Generation und ihren Kindern kaum je gegeben hat. Da überwiegen Erinnerungen an demonstrative Stärke und die daran geknüpfte Bewunderung, wie in jener beispielhaften Szene, als der Vater nach einer Bergwanderung mit einer verletzten Hand noch voller Kraft und Übermut durch den See schwimmt, dem Boot hinterher, in dem die erschöpfte Familie sitzt. („Übern See“, siehe Leseprobe)
Kubaczek thematisiert in seinem Vater- oder vielmehr Familienbuch nicht den Schrecken, sondern die familiären Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten beim Versuch, sich die Welt über Bilder (der Vater zeichnet) und Sprache anzueignen und sie dabei zu verwandeln. Das beginnt beim melodischen Buchtitel „Die Knie meiner Mutter und mein Vater im Krieg“, mit dem der Autor dem kollektiven Trauma einer ganzen Vätergeneration für einen flüchtigen Augenblick eine erstaunliche, beinahe tänzerische Leichtigkeit verleiht. Und wenn er den Vater im ersten Teil des Buches über 50 Seiten frisch drauflos erzählen lässt und ihm, der inzwischen nicht mehr gehen kann, seine literarische Sprache in all ihrer Leichtfüßigkeit und Schelmenhaftigkeit leiht, dann entsteht natürlich auch hier eine Kunstfigur, in der die Geschichten des Vaters, die Erzählweise des Sohnes und wohl auch einiges an Fiktion miteinander verschmelzen:
Ich bin in meiner Jugend weit herumgekommen. Kreuz und quer, durch ganz Europa, sechs Jahre lang. Dank eines gewissen Herrn. Viele Länder habe ich so bereist, und alles gratis! Wirklich, es hat mich keinen Pfennig gekostet! Ich war allerdings nicht allein, und nicht überall, wo wir hingekommen sind, wurden wir freundlich empfangen. Gereist sind wir in Viehwaggons, und die Unterkünfte waren auch ziemlich verlaust. Aber das hat mir wenig ausgemacht. Die Frage war eher, ob wir je wieder nach Hause kommen. (S.7)
Bemerkenswert ist vorweg der Name des Erzählers, Leo Löw, Urenkel des Jakob Lwv aus Lemberg – eine prekäre Abstammung für einen Soldaten der deutschen Wehrmacht, der noch dazu keinen Funken kriegerischen Eifer an den Tag legt. Zumindest nicht in jenen Geschichten, die hier erzählt werden, und in denen vielmehr der pikareske Geist von Grimmelshausens abenteuerlichem Simplicissimus wohnt als der eines schneidigen NS-Soldaten, den es aber auch gegeben haben muss, und der hier – in der Erinnerung des Vaters und/oder in der Erzählung des Sohnes? – bewusst ausgespart wird. Kubaczek zeigt uns einen scheinbar naiven Helden mit mehr Glück als Verstand, der immer wieder auf wundersame Weise gerettet wird, etwa wenn er im russischen Winter mit 40 Grad Fieber von seiner Einheit zurückgelassen und von einer Bäuerin gesund gepflegt wird, weil er ihrem Sohn gleicht, der währenddessen in der Roten Armee kämpft.
Ein andermal zeichnet er in Italien das Portrait einer ebenso schönen wie schweigsamen Volksschullehrerin, die sich später als Partisanen-Chefin der gesamten Po-Ebene entpuppt. An der Front verschläft er vor lauter Erschöpfung ein Bombardement, bei dem ihm buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt, und wie so oft verhindert ein kleineres Übel das größere, nämlich erschossen zu werden. Der Held hat keinen Einfluss auf die Geschehnisse um ihn herum, schafft es aber immer wieder, sich und andere aus heiklen Situationen zu retten, und das mit Hausverstand und Zivilcourage. Laut rufend und Arme schwingend geht er seiner Gruppe voran in ein Partisanendorf, um dann, nachdem diese Zeit hatten zu fliehen, höflich an jede Tür zu klopfen. Das programmierte Blutbad bleibt aus, alle überleben. Immer wieder haben auch Kunst und Musik ihren Platz in dieser Überlebenserzählung, besonders in den Szenen in Norditalien, und am eindringlichsten im Kapitel „Toccata und Fuge“, wo zwei junge Soldaten unter schwerem Beschuss in einer Dorfkirche Orgel spielen, sich in aussichtsloser Lage völlig dem Klang hingeben und für Momente ein „Fenster in den Himmel“ öffnen. Gegen Ende des Krieges läuft Leo Löw gemeinsam mit achtzigtausend Kameraden zu den Amerikanern über, doch die Odyssee ist dort längst nicht zu Ende. „Just kill them, haben die Schotten gesagt, Das haben sie ernst gemeint.“
Im zweiten Teil beginnt ein ganz neues Buch, vom linear erzählten Abenteuerroman geht es mittenhinein in eine unvermittelte Mehrstimmigkeit – Mutter, Vater und Sohn sprechen abwechselnd, nebeneinander und auch miteinander, springen dabei von einer Zeitebene zur anderen. Die Eltern ringen mit ihrem körperlichen Verfall, die Mutter pflegt den Vater mit Liebe und Geduld, aber ebenfalls schwindender Kraft, und mit Verzweiflung angesichts seines Starrsinns und seiner Inkontinenz. Der Sohn ist regelmäßiger Besucher und Gesprächspartner. In der Mitte des Buches, im bereits zitierten Kapitel „Übern See“ beginnen er und die Mutter, über den Vater zu sprechen wie über einen Abwesenden, in der dritten Person, obwohl sie wissen, er hört zu, auch wenn er nicht reagiert. In diese Gegenwart schieben sich Erinnerungen an die Leidenschaft einer über 60 Jahre dauernden Beziehung ebenso wie an verstörende Erlebnisse in der Nazizeit. Hier spricht meist die Mutter und ihr Satz „Meine Knie sind auch nicht mehr schön. Dabei habe ich einmal so schöne Knie gehabt“ (S.63) wird zum Ausgangspunkt für eine Reise in ihre Jugend, als sie Leo kennenlernt, und weiter zurück in seine Kindheit und ihre Kindheit. Hier eine verarmte Witwe mit einem Sohn, dort eine Mutter mit sechs Kindern und ein politisch agitierender, meist arbeitsloser Vater, der ungeachtet der Gefahr einen Anführer der ungarischen Kommunisten in der Wohnung versteckt. Als kleines Mädchen erlebt sie die Deportation der Juden aus den Nachbarwohnungen, später die Bombardements und die Angst um die Mutter, die nicht in den Luftschutzkeller geht. Noch später kommen die Russen, und ein alter Umhang mit Kapuze soll das Mädchen schützen: „Ist Ihnen nicht zu warm in diesem Mantel? Als ich aufschaue, ist es ein junger russischer Leutnant.“ (S.80)
Und doch, mitten in diesem existenziellen Überlebenskampf hat man immer das Gefühl, es schlafe frei nach Eichendorff ‚ein Lied in allen Dingen‘. Phantasie und Neugier heißen die Zauberworte, mit denen Kubaczek die äußerlich karge Welt seiner Figuren zum Singen bringt. Sie treiben sowohl den zeichnenden Leo an als auch die junge Kathi, die nach dem Krieg Französisch studiert und, als sie ein Buch über moderne Malerei liest, gerne von Leo gemalt werden möchte – beim Picknick im Grünen draußen vor der Stadt, so wie Matisse seine junge Frau gemalt hat. Romantik und Erotik, die, obwohl nie als Bild realisiert, viel erzählen über dieses Paar und den Beginn einer unwahrscheinlich lange währenden Liebe.
Ins Grüne ziehen die Beiden nicht nur für ein Picknick, sondern gleich fürs Leben, in eine Wohnung, ganz leer, aber mit Blick auf den Berg. Ruhe, Gärten, Sonne, Frieden. „Schön!“, sagt Leo, „Das ist schön!“ Und hier ist sie wieder, die singende Welt und die Flusslandschaft aus Martin Kubaczeks früherem Band „Strömung“ (2001), die Wohnung in Jedlesee an der Donau, wo heute Industrieanlagen und Siedlungen stehen. Kubaczeks Alter Ego Toni Löw erzählt darin von seiner Kindheit und Jugend in der kinderreichen Wiederaufbau-Familie, und auch hier sind es sinnliche, mit Sprache gemalte Bilder, die im Gedächtnis hängenbleiben und den vergleichsweise unaufgeregten Alltag im Nachkriegsfrieden ebenso farbig vor Augen führen wie die abenteuerliche Odyssee quer durch den Zweiten Weltkrieg. Viele Momentaufnahmen aus diesem vor genau zehn Jahren erschienenen Buch fügen sich wie ergänzende Puzzleteile in Kubaczeks neuen Roman ein und erweitern das Familienportrait hinein in die Sechziger Jahre.
„Mein Zeichnen war stets Versuch zu verstehen“, sagt der Vater im dritten Teil mit den Worten seines Vorbilds William Turner, und der Sohn begibt sich im Prints & Study Room der Londoner Tate Gallery auf die Spur des Malers, suchend vergleicht er dessen Studien zum Schweizer Berg Rigi mit dem Rigi-Bild seines Vaters und findet Übereinstimmungen im Blick und im Strich, in der Wahrnehmung der Welt. Anscheinend beiläufig fließt ein nicht unwesentliches Detail in die Erzählung ein: Das Rigi-Bild des Vaters zeigt gar nicht den Rigi, sondern den Berg daneben, den Bürgenstock mit Vierwaldstätter See und der Vater meint später kopfschüttelnd: „Was für ein Unsinn, mich mit Turner zu vergleichen.“ Doch die Spurensuche des Sohnes hat sich längst verselbständigt, er verliert sich in südenglischen Landschaften, wo er an Suffolks Kreideklippen entlangwandernd plötzlich das charakteristische Rosa des Turnerschen Himmels sehen kann: „…das Rosa, das ich nicht begreife. Aber es ist da: ein Rosa im Wasser und im Licht. Und das Schwarz da im Himmel, ein Lichtfleck, die Sichel, der Mond.“ (S.148)
Die Lichtempfindungen Turners, seine Studien und Bilder, Naturbeobachtungen des Erzählers, geologische und historische Fakten, ein englisches Stück für Violine (The Lark Ascending, S.151) – alles verschmilzt in diesen letzten Buchkapiteln zu einem Rausch an Sinneseindrücken, den Martin Kubaczek in melodiösen Beschreibungen ausbreitet, einmal leicht und flüchtig, einmal körperlich, ganz nah am Gegenstand. Sprache, Malerei, Musik – der Autor, der neben Germanistik und Philosophie auch Violine studiert hat, scheint in allen Disziplinen zu Hause zu sein.
Aber: Nach dem flotten Erzähltempo des ersten und den filmischen Schnitten des zweiten Buchteils – es sind genau drei mal neun Kapitel – steht hier plötzlich die Zeit still, von der Oberfläche geht es in die Tiefe, die Prosa der Turner-Kapitel ist lyrisch und verlangt eine völlig andere Art der Aufmerksamkeit, ein Sehen mit dem inneren Auge, das erst erarbeitet sein will. Wenn es gelingt, erreichen Farben und Stimmungen eine Intensität, wie sie nur in der eigenen Phantasie möglich ist.
Während der Erzähler gegen Ende des Buches manisch Wahrnehmungen festhält, entgleitet dem Vater zunehmend das bewußte Leben. Im letzten Kapitel träumt er von der Donauwiese, die es längst nicht mehr gibt, und die er selbst im Traum nicht mehr finden kann.
Dieses träumende Hinausgleiten aus der Welt bildet den Schlußpunkt eines Vaterportraits, das höchst intim und gleichzeitig exemplarisch für die Kriegs- und Nachkriegszeit ist, und obendrein noch eine Annäherung auf ästhetischer Ebene – der Sohn spürt mit den Mitteln der Sprache dem Blick des zeichnenden Vaters nach.
Formal stecken in Kubaczeks „Roman“ drei völlig verschiedene Erzählungen, vielleicht drei eigene Bücher, und dies alles hat Platz auf knapp 160 Seiten. Das klingt unglaublich, aber irgendwie ‚funktioniert‘ es doch, und dieses Resumée ist eine unbedingte Leseempfehlung!