Von heute auf morgen gibt es also zu jedem Menschen einen Antimenschen vom jeweils anderen Geschlecht, und sollte auch nur die titelgebende kleinste Berührung stattfinden, heben sie sich gegenseitig auf und verschwinden, keiner weiß wohin: „Klar ist doch, dass Menschen überall auf der Welt einfach spurlos weg sind.“ Diese Antimenschen sind jedoch unglücklicherweise gerade die Menschen, die man am meisten berühren möchte. Geraten wird daher zur großflächigen Umgehung: „Halten Sie sich fern von Personen, die eine ungewöhnlich starke Anziehung auf Sie ausüben!“
Die beiden Protagonisten, Physiotherapeutin Ines und Kameramann Albert, begegnen sich kurz vor dem Auftauchen des Phänomens und verspüren eben jene starke Anziehungskraft, vor der überall gewarnt wird. Um der Auslöschung zu entgehen – oder vielleicht auch nicht – kämpfen sie nun mit Gewissensbissen, familiären Verpflichtungen und dem Drang, im wahrsten Sinne des Wortes eins zu werden, zu verschmelzen und zu verschwinden. Und auch sonst treibt das Auftauchen des Phänomens seltsame Blüten unter den Menschen, von denen eine sich schnell organisierende Geschlechtertrennung die naheliegendste und das Verschwinden Australiens die vielleicht rätselhafteste ist.
Indes verdichten sich die Anzeichen einer drohenden Apokalypse. Ausgelöst durch das Phänomen ereignen sich allerlei Katastrophen, die „phantastische Bilder“ liefern: „ein qualmender Liftkabinenklumpen, ein U-Bahn-Chaos, ein nackter, ausgeflippter Bandscheiben-Patient, ein grundlos brennender Baum. Was kommt als Nächstes?“ Was zunächst nur Ahnung und ein vages Gefühl der Bedrohung ist, wird bald zur Gewissheit: „Die Welt ist aus den Fugen […]“. Eine Erkenntnis, die (wie so manch anderes in diesem Roman) sich in schöner Ambivalenz suhlt – wie sich später herausstellt. Denn als die Welt tatsächlich untergeht, nämlich unbemerkt von der Menschheit mit ihrer Antiwelt verschmilzt, ist das keine Katastrophe, sondern alles wird gut, was vorher im Argen war: Farben sind klarer, Klänge reiner, Diktatoren spenden für Sozialprojekte: „Die Welt scheint zu gesunden.“
Bis es jedoch so weit ist, passiert allerhand. Unter anderem kommt es in der Stille des Lesesaals der Nationalbibliothek zu einer Bücherschlacht, angezettelt von Ines und ihrer Mutter, bei der sich Anspannung und Aggressionen entladen: „Inzwischen sind die meisten der Anwesenden aufgesprungen. Sie trauen sich zwar nicht, den beiden enthemmten Frauen entgegenzutreten […]. Doch einige verfallen dem hysterischen Rausch, heben die herumliegenden Bücher auf oder werfen mit ihren eigenen.“ Unter den geworfenen Büchern ist auch Gustav Meyrinks Das grüne Gesicht, das Ines nicht nur mitgehen lässt, sondern das sie auch nachhaltig beeinflusst. Ein Umstand, der natürlich auch ein intertextuelles Nicken Kinos Richtung Meyrink ist, sind doch einige Parallelen zwischen den Romanen festzumachen.
Kitty Kino ist mit diesem Erstling ein temporeicher Text gelungen, dessen kontinuierliche Verwendung des Präsens sich ausgezeichnet mit dem absurderweise so abrupten wie fließenden Wechsel der Perspektiven verträgt. Obwohl der Roman seine Protagonisten mit einer hochgezogenen Augenbraue zu betrachten scheint, ist er nie bösartig, dafür sind Sentimentalität und Pathos stets mit einer angemessen ordentlichen Portion Ironie versetzt: Kino bedient sich eines Witzes, der, ohne bemüht zu wirken, nicht nur ihr feines Gefühl für das Absurde im Alltäglichen sondern auch ihr Talent für beinahe slapstickartige Szenen an den Tag legt.
Der Einfallsreichtum, den Kitty Kino hier zur Schau stellt, ist – so scheint es – künstlerische Überzeugung. In stark an Meyrink und seine Beschwörung von „!La Force d’Imagination!“ erinnernden metatextuellen Hinweisen, die den Roman einrahmen, wird beantwortet, was auf der ersten Seite gefragt wurde: „Wie entstand dann diese sichtbare, fühlbare, festgefügte Welt? Durch Ver-Dichtung?“ Ja, genauso ist es, erklärt im Epilog des Romans der Physiker Paul Ritter: „Alles ist von uns gemeinsam geschaffene Illusion! Oder – und hier schließt sich der Kreis – diese unsere Wirklichkeit ist ein großer gemeinsam gedachter Gedanke.“