#Roman
#Prosa

Die jüdische Orgel

Ludwig Winder

// Rezension von Peter Stuiber

77 Jahre nach der Erstausgabe ist nun das bekannteste Werk des mährisch-jüdischen Autors Ludwig Winder als Reprint erschienen. Heutzutage nahezu vergessen, war der Autor zu Lebzeiten durchaus kein Unbekannter. Immerhin wurde er – „an Stelle Kafkas sozusagen“ (S. 106) – in den engeren Prager Kreis, bestehend aus Oskar Baum, Felix Weltsch und Max Brod, aufgenommen. Zudem arbeitete er als Feuilletonredakteur der angesehenen Deutschen Zeitung Bohemia und hatte als 35-jähriger bereits sieben Bücher veröffentlicht.

Wenn Die jüdische Orgel auch nicht dezidiert autobiografisch ist, so hat Winder wohl einige seiner Erfahrungen als Jude einfließen lassen. Der Protagonist Albert wächst im Getto einer mährischen Kleinstadt auf, stets misstrauisch bewacht von seinem strenggläubigen Vater, genannt Wolf Wolf. Das harte Regime des Erziehers richtet den Heranwachsenden fast zu Grunde. Erst in der Schule der Provinzstadt Prerau entkommt Albert dem Terror der Orthodoxie, schon bald regen sich die ersten sexuellen Neigungen, stets begleitet von Angst und Schuldgefühlen bzw. Selbsthass. Die vorläufige Befreiung gelingt dem Sohn in Budapest. Dort sollte er – eine Familientradition – zum Rabbiner ausgebildet werden, doch der Junge denkt gar nicht daran. Die große Stadt nimmt ihn gefangen, er treibt sich lieber in Spelunken herum als in seiner Studierstube. „Alle Ventile waren geöffnet, alle Poren tranken sich satt, nach dem ersten Rausch war das Genießen noch beglückender. Alles war nun da, Natur und Menschen, alles gab alles her, seine Hand streckte verlangend sich aus, nahm und gab.“ (S. 26) Der ersten großen Liebe namens Etelka, die sich ihr Leben mehr und mehr mit Liebesdiensten finanziert, folgt er nach Wien. In der Haupstadt der Monarchie gelingt ihm schließlich der finanzielle Aufstieg: als Bordellbesitzer.

Doch mit den Lastern kommen körperliche Beschwerden, dazu gesellt sich Verzweiflung über die eigene Verdorbenheit: „Mein Gott, dachte er, wer ist das, der Mann, der hier steht und in die Sterne blickt, wer ist das.“ (S. 60) Reuevoll kehrt er schließlich ins elterliche Dorf zurück und unterwirft sich einem selbstgewählten System der Kasteiung, um seine Verfehlungen zu sühnen. Zur Bestrafung heiratet er sogar die hässlichste Frau des Dorfes, Malvine Spitzkopf („ihr dünner Mund lächelte süßlich, zwei Zähne stolperten wie Betrunkene über die anderen Zähne und hielten sich krampfhaft am Unterkiefer fest“, S. 76). Als Albert erkennt, dass er zwar seinen Ekel gegenüber der Frau überwinden kann, sich jedoch nicht zur Liebe zwingen kann, kehrt er nach Wien zurück. Nach dem Tod seiner großen Liebe Etelka irrt er als wandelnde Vogelscheuche durch die Städte, um seinen Mitmenschen eine Botschaft zu bringen: Sie werden Glück haben, Sie werden gesegnet sein […], aber in Reinheit müssen Sie leben, in Reinheit leben!“ (S. 104).

Der Roman greift klassische Themen des Expressionismus auf: Kampf gegen den Vater (Arnolt Bronnens Vatermord etwa wurde 1920 uraufgeführt), Drang nach „Selbstverwirklichung“ in beruflicher wie privater Hinsicht, Loslösung von den elterlichen Wurzeln (in diesem Fall: von der jüdischen Orthodoxie). Effektvoll und sprachlich dicht beschreibt Winder das Ausbrechen aus der provinziellen Enge und die Ausschweifungen, denen Schuldgefühle auf den Fuß folgen. Der Autor nimmt sich auch jenes Phänomens an, das Theodor Lessing als „jüdischer Selbsthass“ beschrieben hat. Es ist die Verzweiflung darüber, die jüdische Herkunft nie verleugnen zu können, stets Gefangener seiner Wurzeln zu bleiben. „Alles, was ich hasse, ist in mir, ich bin in meiner Ghettohaut eingeschlossen; und wenn ich mir die Haut vom Leibe reiße, ist nichts gewonnen, unter der Haut schlägt das Herz meiner Ahnen, und mein Hirn ist meiner Ahnen Hirn.“ (S. 34) Die spätere Rückkehr ins elterliche Dorf scheitert, ebenso die Ehe als religiöse Institution. Das Ende Alberts als irrer, von den Mitmenschen verlachter Prediger verweist auf die Unmöglichkeit einer Versöhnung.

Die jüdische Orgel ist nicht nur ein literaturhistorisch interessantes Dokument. Das Buch fasziniert durch seine abgründige Atmosphäre, grelle, einprägsame Bilder und eine fesselnde Handlung. Kurzum: Eine außerordentliche literarische Entdeckung.

Die jüdische Orgel.
Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner.
Salzburg, Wien: Residenz, 1999.
111 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7017-1166-6.

Rezension vom 08.10.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.