#Prosa

Die Jahreszeiten der Ewigkeit

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Alexander Kluy

Was ist das eigentlich, ein Tagebuch? Oder ist das eine Suggestiv- und plumpe Fangfrage? Denn liegt nicht auf der Hand, was ein Tagebuch ist – das Notieren, was man vor einer Stunde, gestern, vorgestern erlebt, gemacht, gedacht hat, was man zu sich nahm oder sagte, wer zu Besuch kam, mit wem man stritt?
Das Tagebuch ist, denkt man, ein Auffangsieb, um die verstreichende Zeit festzuhalten und in Worten zu fixieren. Durch das Tagebuch, glaubt man, soll ein überzeitliches Protokoll erstellt werden. Entweder für sich, oder für die Nachwelt.

Der Philosoph Max Dessoir formulierte vor knapp einhundert Jahren, ein solches Zeit-Protokoll verfolge die „Linie des eigenen Lebens“. Das Tagebuch als literarische Gattung der Lebens-Linie ist bei Autoren seit Jahrhunderten ein recht beliebtes Genre, vom Engländer Samuel Pepys im 17. Jahrhundert über den emsigen Harry Graf Kessler bis zu Thomas Mann, Arthur Schnitzler oder Marina Zwetajewa. Noch mehr Franzosen der Moderne gab es, die extensive Diaristen waren, Julien Green, André Gide, Paul Léautaud. Die Reihe endet im deutschsprachigen Raum nicht mit Peter Sloterdijk und seinen „Zeilen und Tagen“-Bänden.
Gehört Karl-Markus Gauß, der Salzburger Essayist, Kritiker, Reisende und Zeitschriftenredakteur auch in diese Reihe, er, der dieser Tage mit dem „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ geehrt wird? Oder ist auch das eine Suggestiv- und plumpe Fangfrage? Denn liegt nicht auf der Hand, dass seine Journale ebendas sind, Journale?
„Mit mir, ohne mich“ hieß der erste Band, den Gauß 2002 herausbrachte, wobei er mit dem Untertitel „Ein Journal“ das Tagebuch-Genre großräumig wie sinnig umfuhr. Ein Jahr später folgte „Von nah, von fern“, ein „Jahresbuch“. 2007 publizierte er „Von nah, von fern“ und 2015 „Der Alltag der Welt. Zwei Jahre, und viel mehr“. Alle waren dezidiert keine minuziös spiegelnde Buchhaltung des Alltags.
„Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ ist ebenfalls kein Tagebuch. Es ist kein Auffangbecken für erfüllte oder nicht erfüllte Forderungen, für eingetretene oder nicht vollzogene Geschehnisse des Tages. Was ist es dann? Vielleicht am ehesten ein Mémoire, eine Erinnerungsschrift.
Der Band umfasst fünf Jahre. Ein kluges Spiel mit Zeit wird hier entfaltet: mit geschriebener Zeit (als Schreibzeit), mit gelebter Zeit (als Lebenszeit), mit den Rändern der Zeitvergessenheit – war doch der Salzburger über 20 Jahre hinweg ein Autor, der Untergehendes, im Verschwinden und Aussterben Befindliches an den Rändern Mittelost- und Osteuropas literarisch stupend wie sensibel dokumentierte, ob Sprachen oder Miniethnien.
Die Einträge enden mit der Jahreszahl 2019. Der Epilog ist im ersten Halbjahr 2020 geschrieben. Hier gewährt Gauß einen Blick in das Movens der Schreib-Arbeit (auch wenn er an anderer Stelle gesteht, diese sei ihm eigentlich noch immer ein Rätsel). „Ich hatte mir“, liest man da, „bereits 2014, zu meinem sechzigsten Geburtstag, vorgenommen, genau fünf Jahre lang Tagebuch zu führen und aufzuschreiben, was mir auffiel und was ich mir ausgemalt, vorgestellt, erträumt, gedacht hatte, und dann aus den Aufzeichnungen – die schließlich zwanzig Hefte mit meiner auch von mir selbst nicht leicht zu entziffernden Schrift füllten – ein Journal zu bauen, das für meine Anwesenheit auf der Welt und in meinem eigenen Leben zeugen würde.“
Anwesenheit. Vielleicht ist das eines der Signalwörter in diesem stilistisch brillanten Band, in dem sehr vieles vorkommt: Politik und Diskussionen beim Abendessen mit Freunden, Nachrufe und Nachgerufenes, Aufgespießtes aus Zeitungen oder dem Radio, Moral und Unmoral, Spazierengehen durch Salzburg inklusive Kindheits- und Jugenderinnerungen, Gefühle und Groteskes, Porträts von Freunden – eine ausgesprochen schöne Hommage gilt Martin Pollack – sowie Vignetten vergessener Autoren. In vier Intermezzi stellt Gauß Reflexionen über Sprache und Wörter und Eigenheiten an. In einem erstellt er – das Motto des Bandes stammt nicht zufällig vom französischen Moralisten Jean de La Bruyère (1645-1696), dem Autor von „Die Charaktere“ – eine „Kleine Charakterkunde“. Dazu gesellen sich Passagen, in denen er glossiert, manchmal erheitert, sich oft echauffiert ob der erschütternden Charakterlosigkeit und Moralfreiheit der Politikerriege nicht nur in Österreich. Es gibt Einträge, in denen er auch Einblicke in sich selbst gewährt und über Faulheit oder Marotten nachdenkt oder übers Reisen und dessen Ende. Einmal schildert er, wie er in Berlin ausgerechnet von Romni bestohlen wird, er, der sie publizistisch schon so lang so wohlgesonnen begleitet. Am Ende tritt beim von Bandscheibenvorfällen heimgesuchten Mittsechziger das nachdenkliche Räsonieren über Krankheit, Vergänglichkeit, Endlichkeit in den Vordergrund.
Angesichts der Vielzahl von Preisen, die Gauß in den letzten 25 Jahren zugesprochen worden sind, kommt man nach dem letzten, kunstvoll schließenden Satz in diesem Buch, das von W bis W reicht, von Wut bis Weisheit, ins Grübeln – darüber, welcher Preis ihm denn noch verliehen werden könnte.

Karl-Markus Gauß Die Jahreszeiten der Ewigkeit
Journal.
Wien: Zsolnay, 2022.
320 S.; geb.
ISBN 978-3-552-07276-3.

Rezension vom 07.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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