Die Jahre der wahren Empfindung

Helmut Böttiger

// Rezension von Kurt Bartsch

Bereits im Jahr 1980 zog der Soziologe und Essayist Michael Rutschky eine erste allgemeine Bilanz über das zu Ende gehende Jahrzehnt, das er geprägt sah von „Erfahrungshunger“ als Reaktion auf das Ausblenden subjektiver Wahrnehmungen und Ansprüche in politischen wie auch in literarischen Diskursen der späten 1960er und beginnenden 1970er Jahre. In letztgenannten beobachtet Rutschky einen Paradigmenwechsel: Die im Kontext der 1968er Studentenbewegung von „Utopien der Allgemeinbegriffe“ geleiteten Diskurse werden abgelöst von „Utopien der Unbestimmtheit“, meint: von gefühlsgeleiteten Utopien (Rutschky, Erfahrungshunger, 1980, S. 52). Böttigers Werk bestätigt Rutschky, hat aber aus vier Jahrzehnten Distanz den größeren und besseren Überblick.

Nicht bedeutet der angesprochene Paradigmenwechsel eine „Trendwende“ in eine fragwürdige „neue Innerlichkeit“ und zu Realitätsverlust. Da waren sich allerdings die Großkritiker des westdeutschen Feuilletons keineswegs einig, wie sich an den Reaktionen auf Peter Handkes Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung (1975) zeigen ließe. Während Reinhard Baumgart in der ZEIT (Eine wilde Reprise? Erst Zeichen, dann Wunder vom 21.3.1975) den Vorwurf der Realitätsabkehr und übersteigerten Selbstbezogenheit erhob, replizierte Hellmuth Karasek im SPIEGEL (Worte für Gefühle von gestern, 30.3.1975) mit einem so überraschenden wie überzeugenden Vergleich von Handkes Erzählung mit Franz Kafkas Verwandlung und mit der Aufforderung zu bedenken, „daß diese sogenannte Innerlichkeit einer paranoiden Verstörung eine Zwangsantwort auf die Außenwelt ist“. Wer denkt dabei nicht an Thomas Bernhard? Doch davon später.

Böttigers Panorama der deutschen Literatur der 1970er Jahre ist wohl in der Titelwahl inspiriert von Handkes Erzählung, weicht aber mit der zeitlichen Ausdehnung auf ein Jahrzehnt auch entschieden von dieser ab. Der Dichter lenkt die Aufmerksamkeit auf einen mystischen Augenblick. In diesem erfährt der Protagonist die Metamorphose dreier für sich unscheinbarer alltäglicher Dinge in einer besonderen Konstellation. Dem mystischen Moment kann nicht Dauer verliehen werden, es ist ein transitorischer realitätsentrückter Zustand. Mit der Fokussierung auf „Jahre“ lenkt Böttiger die Blicke auf unterschiedliche Wahrnehmungsmuster, die in Summe die „wahre Empfindung“ ausmachen. Auf die Vielzahl verweist auch der verheißungsvolle, „eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“ versprechende Untertitel.

In 27 in sich geschlossenen Kapiteln, die jedes für sich stehen kann, rückt Böttiger jeweils ein Thema oder ein Ereignis und für diese beispielhafte Autorinnen und Autoren ins Zentrum seiner Ausführungen. Jedes Kapitel ist mit einem Titel und einem Untertitel von höchst unterschiedlichem Informationswert versehen. Eine „wilde Blütezeit“ seien sie gewesen, die 1970er Jahre. „Wild“ beginnt es mit einem „Vorspiel“ über „Uwe Johnson, die Kommune 1 und das Puddingattentat“ (S. 9), einem Vorspiel, das durch einen Blick zurück auf ein Ereignis Mitte der 1960er Jahre überrascht. Uwe Johnson vermietete während seines langen USA-Aufenthaltes seine beiden Berliner Wohnungen über Vermittlung von Hans Magnus Enzensberger und dessen Bruder Ulrich sowie seiner Ehefrau Dagrun unwissentlich an die Kommune 1. Neben anderen Aktionen und Happenings plante diese ein Attentat auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey, einen letztlich harmlosen, zudem vom Verfassungsschutz unterbundenen Anschlag mit Lebensmitteln, vor allem Pudding. Deshalb wurde diese Aktion als „Puddingattentat“ (S. 14) bezeichnet, fand aber trotz ihrer Harmlosigkeit sogar Beachtung in der „New York Times“ unter Nennung von Uwe Johnsons Namen. Dass dieser sich düpiert fühlte, lässt sich verstehen, bedeutsamer aber ist die unterschiedliche poetologische Ausrichtung von „Enzensberger, Johnson, Grass“, denn „dieses Dreieck vermaß sehr unterschiedliche politisch-literarische Kraftfelder“ (S. 15). Johnson – damit voraus weisend auf die 70er – zeigte vor allem kein Verständnis für die Toderklärung der Literatur im „Kursbuch“ 15 von 1968. Das Ende der bürgerlichen Literatur verkündete im folgenden „Kursbuch“ auch Peter Schneider in seiner Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller, indem er eine operative, in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreifende Literatur postulierte. Umso bemerkenswerter, dass Peter Schneider dann 1973 mit der Erzählung Lenz ein Umdenken einleitete. Eingangs dieser auf Georg Büchners Lenz intertextuellen Bezug nehmenden Erzählung findet sich aus der Sicht der 1968er eine unerhörte Infragestellung von deren Positionen: „Schon seit einiger Zeit konnte er [Lenz] das weise Marxgesicht über seinem Bett nicht mehr ausstehen. Er hatte es schon einmal verkehrt herum aufgehängt. Um den Verstand abtropfen zu lassen […] Er sah Marx in die Augen: ‚Was waren deine Träume alter Besserwisser, nachts meine ich? Warst du eigentlich glücklich?“ (Peter Schneider, Lenz, 1973, S. 5). In Italien – sich damit in die deutsche Tradition der Bildungsreisenden einreihend – macht er die Erfahrung, dass Gesellschaftspolitik und subjektive, gefühlsgeleitete Ansprüche einander nicht ausschließen müssen. Schneiders Erzählung, die deren „Engführung“ (S. 22) postuliert, gibt die Parole aus: „Weg von den Begriffen, hin zur Wahrnehmung“ (S. 25).

Lenz wurde unmittelbar nach Erscheinen zum „Kultbuch“, machte es doch die „Leerstelle der Gefühle“ (S. 17) als Defizit bewusst. Dies gilt für Publikationen von Autoren diverser marxistischer Ausrichtungen ebenso wie auch für jene, die sprachspielerisch oder Modelle erprobend verfahren wie der von den 68ern distanzierte, „Popkultur“ in die Literatur einführende „Kultautor“ (S. 80) Peter Handke in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969), beispielsweise mit litaneihaften oder sogenannten „gefundenen Texten“. Die genannte Stunde der wahren Empfindung (1975) und zuvor schon die biographisch-autobiographische Selbsterkundung Wunschloses Unglück (1972) lässt wie Schneiders Lenz eine „neue Weichenstellung“ (S. 92) erkennen. Im Schreiben über den Tod der Mutter wird dem Autor die gefühlmäßige Verbundenheit mit ihr bewusst.

In den 1970er Jahren wächst die Zahl schreibender Frauen, die fokussiert sind auf „Selbstverwirklichung“ (S. 49f.), nach einer genuin weiblichen Schreibweise streben und die Erkundung weiblicher Körperlichkeit postulieren. Böttiger hebt Karin Struck hervor, deren Politisches, die Klassenzugehörigkeit, und Subjektives thematisierender Roman Klassenliebe (1973) zum Bestseller wurde. Struck bezieht sich mehrfach auf Positionen der „Antipsychiatrie“-Bewegung (S. 50) und – wie Peter Schneider – auf Büchners Lenz. Ebenfalls ein Bestseller wurde der autobiographische Roman Häutungen (1975) der Schweizer Autorin Verena Stefan. Im Ringen „um eine selbstbewusste weibliche Perspektive“ stößt Stefan – wie sie einleitend moniert – auf sprachliche Widerstände: „Beim schreiben dieses buches, dessen inhalt hierzulande überfällig ist, bin ich wort um wort und begriff um begriff an der vorhandenen sprache angeeckt“ (zit. nach S. 53). Böttiger nennt weitere Autorinnen, die in unterschiedlicher Weise um eine „weibliche Perspektive“ kämpfen, Brigitte Schwaiger mit ihrem tagebuchartigen Mega-Bestseller Wie kommt das Salz ins Meer (1977), Gabriele Wohmann, deren Roman Ernste Absicht (1970) mit der Autorin in der Hauptrolle einer Alkoholikerin verfilmt wurde, Gisela Elsner, die aufgrund ihrer politischen Ausrichtung auf die DDR-nahe DKP aus dem Rahmen fällt, und Elfriede Jelinek. Die Letztgenannte ist im Fahrwasser der österreichischen Literatur der späten 1960er, beginnenden 1970er Jahre in ihren Anfängen sprachkritisch und Modelle erprobend ausgerichtet und wird seit dem Roman die liebhaberinnen (1975) zur scharfzüngigen Gesellschaftskritikerin.

Ein Kapitel über Ingeborg Bachmann ist unter das Motto gestellt: „Die Phrasen zerschreiben“ (S. 59). Ihr komplexer Roman Malina, der dies vor allem im Kapitel „Glücklich mit Ivan“ leistet, lag im Erscheinungsjahr 1971 aufgrund des Fehlens vordergründiger Gesellschaftskritik quer zum Mainstream. Erst nach Erscheinen der vierbändigen Werkausgabe von 1978, die erste Texte aus dem Nachlass, insbesondere die Fragmente Der Fall Franza und Requiem für Fanny Goldmann aus dem Todesarten-Komplex veröffentlichte, spielte Malina eine wichtige Rolle in der feministischen Rezeption des Oeuvres von Bachmann. Da gilt dann: „Im Laufe des Romans werden die Herrschaftstechniken der Gesellschaft durchdekliniert, denen die weibliche Ich-Figur zum Opfer fällt.“ (S. 62) Die Autorin fühlt sich durchaus auch als Opfer, wie die Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle (1965) beweist. Böttiger schreibt dem Schlusssatz von Malina, „Es war Mord“, zurecht eine „Schlüsselrolle“ zu, denn von dieser irritierenden finalen Anklage her eröffnen sich unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten.

Ein eigenes Kapitel ist auch Christa Wolf gewidmet. Deren 1989 erschienenes Sommerstück ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Im Sommer 1975 zog sich die Autorin ins Mecklenburgische zurück, um dem Betrieb in Berlin zu entfliehen und ein anderes Leben zu leben. Sofort beginnt sie darüber zu schreiben, setzt immer wieder neu an, zieht aber die parallele Arbeit an anderen literarischen Projekten vor, bis der Prosatext 1989 reif zur Veröffentlichung ist. Das Sommerstück ist multiperspektivisch mit immanenten poetologischen Reflexionen angelegt, die Protagonistin Ellen thematisiert verschiedene Schreibweisen und Schreibhaltungen, tritt mit der Lyrikerin Sarah Kirsch in eine Art literarischen Dialog, in dem die gemeinsam verbrachte Zeit bei beiden Autorinnen unabhängig voneinander gefeiert wird. Wolf zitiert mit dem „ersten Satz“ Titel und Eingangsvers eines Gedichts der Freundin: „Es war dieser merkwürdige Sommer“ (S. 227). Die Lyrikerin ist im Sommerstück „gleich zweimal gegenwärtig: als konkrete wie als symbolische Figur“ (ebda).

Unter den Lyrikern hebt Böttiger vor allem Nicolas Born und Rolf Dieter Brinkmann sowie Peter Rühmkorf hervor. Born distanzierte sich unter dem Einfluss der „amerikanischen Beatlyrik und […] Pop-Art“ (S. 111) von der 68er Bewegung. Deren Bedeutung für die zwei erstgenannten Dichter unterstreicht auch ein Gespräch der beiden im Sender Freies Berlin (vgl. S. 114) und gilt ebenso für Jürgen Theobaldy, der „als Wortführer einer ’neuen Subjektivität'“ (S. 120) angesehen wurde. Theobaldy pflegt eine „einfache Sprache“, die „in der dogmatischen Endphase des politischen Sprechens etwas Subversives“ (S. 121) an sich hat. Brinkmann – wie Born jung verstorben – zeigte sich in seinen letzten Lebensjahren frustriert ob der Folgenlosigkeit der Pop-Literatur (vgl. S. 141). Überliefert sind „Schimpfkanonaden“ (S.143) à la Thomas Bernhard. Wiewohl „ein freischwebender Linker, ein unorthodoxer Querdenker“ (S. 321), wird Peter Rühmkorf von Marcel Reich-Ranicki als Beiträger zum Feuilleton der FAZ umworben. Religiös, gar nationalsozialistisch angehauchte Lyrik der Nachkriegszeit war ihm zutiefst zuwider, hingegen stellte er sich mit seinem 1975 erschienenem „Brevier“ Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (S. 324) in eine bemerkenswerte Tradition. Fasziniert ist er zudem von Gottfried Benns artistischem Verfahren mit der Sprache, nicht allerdings von dessen Programmatik. Erwartbar wäre in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf die Verehrung von Heinrich Heine, in dem Rühmkorf geradezu den idealen Dichter sieht.

Böttiger lässt seine besondere Wertschätzung Uwe Johnsons erkennen. Unter dem Kapiteltitel „Der epische Atem der Gezeiten“ (S. 363) beleuchtet er den Roman in vier Bänden, Jahrestage (1970-1982), der ihm als „der vorläufig letzte Versuch eines großangelegten Epochen- und Zeitromans“ (ebd.) gilt. Unerreicht in seiner Zeit, lässt sich mit diesem „monumentale[n] Werk“ allenfalls die dreibändige Ästhetik des Widerstands (1975-1981) von Peter Weiss vergleichen. Gattungsmäßig schwer zuzuordnen und von herausforderndem Erzählverfahren versteht der bekennende Sozialist Peter Weiss „die Kunst der Moderne nicht als ’spätbürgerlich‘ oder ‚obsolet‘, sondern als einen Akt der Emanzipation“ (S. 272). Er verknüpft avantgardistische und linke Positionen (vgl. S. 286), wie außerdem Manfred Esser aus dem Stuttgarter Kreis um den Ästhetiker Max Bense.

Peter Weiss hatte in den 60er Jahren auch als Dramatiker mit dem Marat/Sade-Stück (UA 1964) und mit der dokumentarisch verfahrenden, auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess bezogenen Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen (UA 1965) Erfolg. Mit den späteren Theaterstücken konnte er an diesen nicht anknüpfen. Von Dramatikern nennt Böttiger ausschließlich Heiner Müller, der „glaubwürdig“ (S. 241) unpathetisch, anekdotisch, beiläufig (vgl. S. 240) „proletarische Kunst, eine radikal kommunistische Dramatik“ (S. 241) vertrat. Er machte „die Antike extrem zeitgenössisch“ (S. 239) und setzte mit der Hamletmaschine (UA 1979), dem „Schlüsseltext“ (S. 243) seines Oeuvres, der Dramatik bereits mit dem einleitenden Satz, „Ich war Hamlet“ (nach S. 244), grammatikalisch und gattungstheoretisch ein Ende. Mit der körperbetonten Dramatik reiht er sich doch – so quer wie immer – in einen Trend der Literatur der 1970er Jahre ein.

Im Trend liegen im angesagten Jahrzehnt auch die zahlreichen Vaterbücher. Die Liste der genannten ließe sich erweitern, für alle gilt jedenfalls zweierlei: Erstens der Wunsch, das Schweigen der Väter zu durchbrechen und Klarheit zu schaffen über deren allfällige Verstrickung in NS-Verbrechen. Zweitens handelt es sich um Selbstvergewisserungen der Söhne bezüglich ihrer emotionalen Verbundenheit mit den Vätern im positiven, negativen oder auch gleichgültigen Sinne. Gestörte Familien-, nicht ausschließlich Vaterbeziehungen sind Gegenstand der Anklage in Thomas Bernhards zwischen 1975 und 1982 erschienenen autobiographischen Romanen und in Mars (1977) des Schweizer Autors Fritz Zorn, der die Ursache seiner tödlichen Krebserkrankung der Gefühlskälte im wohlhabenden Elternhaus an der Goldküste des Zürchersees zuschreibt. Das Interesse an psychosomatischen Erklärungen seelischer und physischer Erkrankungen als Folge von traumatischen Kindheitserfahrungen ist in den 1970ern groß. Im Gegensatz zu Zorn begegnet der Übertreibungskünstler Bernhard dem als fürchterlich Erfahrenen mit befreienden, ins Lächerliche ziehenden Schimpftiraden.

In den 1970er Jahren begann es in der DDR zu brodeln. Nach der Amtsübergabe Ulbrichts an Honecker glaubten die Künstler an eine liberale Wende. Böttiger beobachtet an der DDR-Literatur der 1970er Jahre einen „eigentümliche[n] Schwebezustand“ (S. 214). Spätestens mit der Ausbürgerung des im Osten wie Westen erfolgreichen Lyrikers, Liederschreibers und Sängers Wolf Biermanns erwies sich die Hoffnung auf eine liberalere Kulturpolitik als Illusion. Viele sahen in diesem politischen Akt sogar den Anfang des Endes der DDR. Unter den maßgeblichen Autoren und Autorinnen – Christa Wolf, Sarah Kirsch und Heiner Müller wurden schon erwähnt – finden sich Volker Braun, Franz Fühmann und Fritz Rudolf Fries. Den Letztgenannten bezeichnet Böttiger als „die größte Überraschung der DDR“ (S. 251), lehnt dieser doch den in der DDR sakrosankten Georg Lukács ab und begeistert sich für Marcel Proust. Er ist zweisprachig aufgewachsen und von seiner Familie mit spanischer Literatur versorgt worden. Statt sozialistischem Realismus fordert er die Phantasie an die Macht. So zum Beispiel in seinem Roman Das Luft-Schiff. Biographische Nachlässe zu den Fantasien meines Großvaters (1974). Volker Braun scheint an das verordnete literarische Erbe anzuknüpfen. Doch wie Ulrich Plenzdorf nicht den klassischen Bildungsroman mit gelungener Sozialisation zum Vorbild nimmt, sondern den scheiternden Werther, so Braun mit Klopstock, Hölderlin oder Jean Paul eher Außenseiter. Die Unvollständige Geschichte musste schon vom Titel her in der DDR fragwürdig erscheinen. Fühmann, in dem man eine „moralische Instanz“ (S. 214) sehen konnte, begann systemkonform dem „Bitterfelder Weg“ folgend, öffnete sich der konkreten Poesie, forderte Sinnlichkeit in der Literatur. Ein „Schlüsselwerk“ der DDR-Literatur sieht Böttiger in Fühmanns Trakl-Essay Vor Feuerschlünden (1982). Insgesamt lässt sich am Werk Fühmanns der schon angesprochene kulturelle „Schwebezustand“ beobachten. Eine besondere Sozialisation prägte Guntram Vesper, der 1957 als 16-Jähriger mit seinen Eltern aus der DDR in den Westen geflüchtet ist. In seinem ersten Prosaband Kriegerdenkmal ganz hinten (1970) demaskiert er in einer bemerkenswerten Montage „das ‚falsche Bewusstsein‘ der deutschen Provinzler“ (S. 296). Kritisch gegenüber den Entwicklungen in der Bundesrepublik, öffnete er sich in Nördlich der Liebe und südlich des Hasses (1979) doch auch dem Subjektiven und den Fragen nach dem Ich.

Nicht fehlen dürfen in einem Buch über die Literatur der 70er Jahre die beiden deutschen Literaturnobelpreisträger, die von der katholischen Kirche wie von der SPD enttäuschte moralische Instanz Heinrich Böll sowie Günter Grass, der treue Streiter für die Sozialdemokratie, dessen Erzählung Das Treffen in Telgte (1979) Böttiger als „eines der schönsten Bücher dieses Jahrzehnts überhaupt“, als „ein geistreiches Spiel“ (S. 397) hervorhebt. Aspekte des Literaturbetriebs, insbesondere rund um die Gruppe 47, werden nicht ohne Humor verhandelt. Humor, „Hochkomik“ (S. 415) ist nicht gerade die Stärke der deutschen Literatur. Satiriker wie Wilhelm Genazino und Eckhard Henscheid sind selten.

Ein Solitär in der deutschen Literaturlandschaft ist Arno Schmidt. Er war schon vor Erscheinen des Monumentalwerk Zettel’s Traum (1970) ein „sagenumwobener Autor“ (S. 404), bekannt vor allem durch die Titelgeschichte im „Spiegel“. Schon in frühen Werken, in den drei Leviathan-Texten (1949) oder im Roman Das steinerne Herz (1956) deklarierte er sich nachdrücklich als antimilitaristisch und atheistisch. Ein Provokateur, der auch gerichtsanhängig wurde. In Zettel’s Traum bezieht er sich auf Shakespeares Sommernachtstraum, auf Niklas Zettel, der von sexuellen Ausschweifungen träumt. Der Name verweist zudem „auf das spezielle Aufschreibesystem Schmidts“ (S. 412). Eine Anmerkung am Rande: das Arno-Schmidt-Kapitel ist das einzige ohne Bild.

Einer, selbst ein Solitär, der Arno Schmidt verehrt und ihn auf eine Stufe mit James Joyce stellt, ist Hubert Fichte (vgl. S. 311). In seinem für Böttiger aufgrund der eigenen Montagetechnik und der poetologischen Reflexionen wichtigsten Werk, dem Roman Die Palette (1969), taucht er in das dem großbürgerlichen entschieden entgegengesetzte Hamburger Kneipenmilieu ein. Die selbstgewählte Rolle ist die des Außenseiters, nicht zuletzt auch wegen seines Outings als Homosexueller. Seiner Zeit voraus ist er durch seine antikolonialistische Haltung und durch seine Abkehr von Eurozentrismus.

Mit dem Kapitel über den „Undergrounddichter“ (S. 434) Jörg Fauser, der stilistisch mit seinen „Vernichtungssuadas“ (S. 434) Thomas Bernhard nahesteht, rundet sich der Kreis. „Wild“ begann es mit dem „Vorspiel“, das mit einem Blick zurück auf ein Ereignis der 60er Jahre zugleich auf die 70er vorauswies, und „wild“ endet es. Das letzte Kapitel über Fauser bietet schließlich einen „Übergang zu den achtziger Jahren“ (S. 430).

Zu erwähnen wäre noch ein Kapitel über „Alternative Zeitschriften, Verlage, Buchhandlungen und Dichter“ (S. 28-44), die von der Literaturgeschichtsschreibung kaum beachtet werden, wiewohl sie gerade in den 1970er Jahren eine „Blütezeit“ erleben. Einen Einblick in den Literaturbetrieb bieten schließlich Ausführungen über die verlegerischen Aktivitäten des Kafka-Experten Klaus Wagenbach und von Friedrich Christian Delius (S. 180-197).

Helmut Böttiger Die Jahre der wahren Empfindung
Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur.
Göttingen: Wallstein, 2021.
473 S.; geb.;
ISBN 978-3-8353-3939-2

Rezension vom 12.01.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.