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Die Imker

Gerhard Roth

// Rezension von Johanna Lenhart

Am Anfang war der Nebel: Ohne Vorwarnung legt sich ein gelber Schleier über die Welt und als er sich wieder lichtet, sind von den Menschen nur noch ihre Kleider und Zahnprothesen übrig. Nur wenige haben diesen Einschnitt überstanden und müssen sich jetzt miteinander arrangieren, sich in der neuen-alten Welt zurechtfinden. Was sich liest wie eine Einführung zu TV-Serien wie The Leftovers (2014-2017) oder The Mist (2017) und deren apokalyptisch anmutenden Welten, ist die Prämisse des letzten, posthum veröffentlichten Romans von Gerhard Roth: Die Imker dreht sich um eine bienenzüchtende Gemeinschaft, die nach der Katastrophe (wenn es denn eine ist) nach und nach zusammenfindet. Interessant ist für Roth dabei weniger der genretypische Kampf ums Überleben zwischen Hunger und moralischen Dilemmas – obwohl auch Versatzstücke davon immer wieder auftauchen – sondern etwas anderes:

„Wir mussten über Autowracks, Lastwagen, Traktoren, Motorräder und einen Feuerwehrwagen klettern und spürten, dass es nur noch eine bizarre, unverständliche Welt war, die uns umgab. Nichts, was wir sahen, durften wir in Beziehung setzen zu dem, was wir kannten. Ich wusste nicht einmal mehr, was wir wollten.“ (S. 21)

Interessant an dieser neuen Welt ist, dass alle Ordnungen, Normen, Regeln und Konventionen außer Kraft gesetzt sind. Gewissheiten, Bedürfnisse und Begehren, die in der alten Welt das Leben geleitet und scheinbar Sinn ergeben haben, zeigen plötzlich ihr wahres, willkürliches Gesicht.

Den harten Kern dieser neuen Gemeinschaft der Imker bilden passenderweise die Bewohner:innen und Angestellten des „Hauses der Künstler in Gugging“, dem Roth hier ein literarisches Denkmal setzt. Das „Haus der Künstler“ beherbergt Art Brut Künstler:innen mit psychischen Beeinträchtigungen, Menschen also, die scheinbar bereits vor der Katastrophe jenseits des sogenannten ‚Normalen‘ operierten – eine ausgrenzende Zuschreibung, die in Die Imker stets mitreflektiert wird. Von einem dieser Bewohner:innen wird der Roman, der sich als Bericht präsentiert, dann auch erzählt: Franz Lindner (bereits als Protagonist von Roths 1984 erschienenem Roman Landläufiger Tod bekannt) ist schizophren und damit einer der ‚Verrückten‘ – ‚ver-rückt‘ im wörtlichen Sinn, bewegt er sich doch wie die anderen außerhalb der „diffusen Normalitätsregeln“ (S. 184).

Franz erstattet also Bericht, notiert sich Geschehenes, was ihn beschäftigt und besonders was er wahrnimmt. Daraus ergibt sich eine Aneinanderreihung von Erlebnissen, Eindrücken, Phantasien, Verwirrungen und Vorsehungen, denn Franz hat „etwas, das die Medizin als »krank« und die Religionen als »heilig« bezeichnen: Visionen“ (S. 325). Visionen, die sich nach und nach als prophetisch erweisen. Indem sie eine alternative Form der Wahrnehmung ermöglicht, wird die Schizophrenie hier zum Wahrheitsfinder, der Patient zum Seher von verborgenen Wahrheiten und Zusammenhängen. Franz ist ein genauer Beobachter der Umtriebe der Imker und in der Lage, in die Zukunft zu sehen, in die Gedankenwelt anderer hineinzuhorchen und mit Tieren zu kommunizieren.

Die innere und äußere Wahrnehmung von Franz, also phantasierte Wahrheiten und Wahrheiten der Sinnesorgane, klaffen dabei zusehends auseinander. Tatsächlich Geschehenes kann von Erträumtem oder Vorausgesehenem nicht mehr getrennt werden. Zusätzlich kommen ihm nach einem durch Bienengift ausgelöstem Delirium immer wieder „Sprachbilder“ (S. 40) in den Kopf, die als zusammenhanglos aneinandergereihte ‚Gedichte‘ in den Text eingewoben sind. Die Bienen wurden in den 1980er-Jahren während der Entstehung von Landläufiger Tod zu einem bestimmenden Thema für Roths Schaffen, mithilfe dessen er über das „Problem der wechselnden Perspektive im Roman, die es mir ermöglichen sollte, hunderte kleine und größere Geschichten miteinander zu verbinden“ (Über Bienen, S. 6), nachdachte. Seither haben Roth die Bienen, ihre Sprache, ihr Zusammenwirken nicht mehr losgelassen und dienen in Die Imker mit ihrem Gift als Katalysatoren für sprachliche Momentaufnahmen: „Mit dem Fernrohr verwandelten sich die Bienen in einen Schwarm von Satzeichen.“ (S. 49)

Neben einem Modell eines menschlichen Gehirns, das Franz findet und unentwegt auseinander und wieder zusammenbaut, taucht auch ein Kaleidoskop im Roman immer wieder auf und scheint ein Bild für die Struktur des Romans zu liefern. Das Wort ‚Kaleidoskop‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie ’schöne Bilder, Gestalten, Formen sehen‘. Es beschreibt damit ein Erzählprinzip, das auf sich immer neu zusammensetzende, sich ständig in Bewegung befindende Bilder setzt, auf unzählige, sich immer wandelnde Wahrnehmungen und wie diese, den Gesetzen der Zusammenhänge und Symmetrien folgend, auch die angrenzenden Bilder verändern.

Daraus entsteht eine oft etwas hermetische Flut an Beobachtungen, Exkursen zu Filmen, Kunst und Bienenkunde, „Sprachbildern“, Anspielungen und Phantasien, die es den Lesenden nicht immer einfach macht, sich zurechtzufinden. Wer sich aber auf diese Materialsammlung an Visionen, Träumen, Überlegungen zu Religion, Gesellschaft und Natur einlässt, wird mit Bildgewaltigem belohnt.

Die Imker.
Roman.
Mit Illustrationen von Erwin Wurm.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2022.
560 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-10-397467-6.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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