#Roman

Die im Schatten, die im Licht

Sabine Scholl

// Rezension von Ulrike Matzer

Wie kann Literatur im Unterschied zur Zeitgeschichte Historie vermitteln? Wie verleiht man bislang Ungehörten eine Stimme? Diese Fragen treiben Sabine Scholl bei ihrer Arbeit als Schriftstellerin um. Nicht nur ihre bisherigen Romane zeugen teils von der profunden Auseinandersetzung mit dem Thema. Jüngst hat sie auch einen Reader vorgelegt, der exemplarisch poetologische Verfahren und narrative Strategien schildert: Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird (Sonderzahl, 2021). Über die Analyse des Zugangs schreibender Kolleg:innen wie Heimrad Bäcker, Ursula Krechel, Ludwig Laher oder Edmund de Waal reflektiert sie die je angewandten Mittel und verortet indirekt auch ihr eigenes Tun. Besagter Band bietet sich somit an, die methodischen Grundlagen ihres literarischen Schaffens zu erhellen.Welchen historischen Stoff nimmt Sabine Scholl sich nun selbst für ihr neues Werk vor? Aus welcher Perspektive werden die Ereignisse geschildert? Wie organisiert sie das Quellenmaterial, wie findet sie die Balance zwischen facts und fiction?

Die im Schatten, die im Licht ist den Jahren zwischen 1938 und 1946 gewidmet, jenem Abschnitt der österreichischen Geschichte, über den man während der Zweiten Republik aufgrund der NS-Opferdoktrin jahrzehntelang weitgehend schwieg. Und es ist ein Roman, der das Geschehen aus der Perspektive von Frauen schildert. Sie waren die stummen Heldinnen, die eine an Politik und „großen“ Männern orientierte Geschichtsschreibung allzu gerne ignorierte. Erst im Zuge einer historiografischen Neuausrichtung, die sich stärker an sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen orientierte, rückte das Alltagsleben in den Blick; zudem bemühten sich feministische Historikerinnen in den 1970er Jahren um eine explizit geschlechterspezifische Sicht. Hidden from History (1973) und Becoming Visible (1977) sind bezeichnenderweise zwei maßgebliche Publikationen aus dieser Zeit betitelt, die sich Frauen als Akteurinnen widmen.

Der von Sabine Scholl metaphorisch eingesetzte Hell-Dunkel-Kontrast ließe sich dahingehend lesen, dass sie die „unsichtbaren“ Frauen ihrem Schattendasein entreißt und ihnen zum Recht und ans Licht verhilft. Zugleich markiert das Gegensatzpaar auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Frauen: Während die einen abseits agieren, stehen andere im Rampenlicht und können es sich selbst in den Kriegsjahren richten. Knapp zwei Handvoll Akteurinnen sind es, um die sich der Roman kristallisiert; männliche Protagonisten kommen nur beiläufig vor, als Ehemänner oder Geliebte – womit Scholl ein gängiges geschlechtstypisches Narrativ invertiert. Einer Regisseurin gleich führt sie eingangs im Buch die handelnden Personen auf, desgleichen die Orte des Geschehens. Seinen Anfang nimmt der Roman in der oberösterreichischen Gemeinde Grieskirchen (wo Sabine Scholl selbst aufgewachsen ist), und er greift weit bis in Exilländer wie Shanghai und die USA aus. Die massiven Fluchtbewegungen jener Zeit gehen dadurch in das Erzählte ein, Geschichte wird transnational vermittelt, sowohl synchron wie diachron über acht Jahre hinweg wird uns das Schicksal dieser exemplarischen Frauenfiguren geschildert.

Gretel also aus Grieskirchen, eine junge Schneiderin, erhofft sich vom „Anschluss“ eine neue Zeit, die begeistert jubelnde Menge trägt sie wie eine Welle, reißt sie mit. Lotte in Linz indes wird jäh aus ihrem Teenagerdasein gerissen: „Aussi mit die Judn!“, pöbelt sie ein Pulk Jugendlicher an, während sie mit den Eltern im Kaffeehaus sitzt. Bald darauf wird das Kleidergeschäft der Familie geräumt und der Vater deportiert. Gretel dagegen avanciert zur Lageraufseherin, nun ist sie wer und profitiert von kleinen Privilegien. Francine in Paris wiederum kann selbst in dieser Zeit ihr Dasein als Vedette genießen, bekannt aus Cabaret und Film liegen ihr die Verehrer zu Füßen. Auch Huberta, eine Frau von Welt, die nun im arisierten Schloss Leopoldskron zu Salzburg residiert, weiß ihre weiblichen Reize zu nutzen. Als Adelige verfügt sie über ausreichend Beziehungen und Dünkel, um selbst die Kriegsjahre komfortabel zu verbringen. „Huberta fiel tief, aber weich“, heißt es bezeichnenderweise. Lottes Familie bleibt letztlich nur die Flucht nach Shanghai, der Vater darf das Lager verlassen, unter der Bedingung, dass er schweigt. Als gebrochener Mann stirbt er wenig später im Exil, während Lotte und ihre Mutter unter prekären Umständen ums schiere Überleben kämpfen.

Anhand dieser und anderer Frauen, die einen Querschnitt der damaligen Gesellschaft bilden, spannt Scholl ein Panorama auf, das eine polyperspektivische Sicht auf die einstigen Geschehnisse erlaubt. Persönliche Schicksale verdichten sich zu einer Geschichte von „unten“, die seitens der Leserschaft Einfühlung in die Figuren evoziert. Was hieß der Krieg für die Einzelnen? Wie wirkte er sich im Alltag, zumal jenem der Frauen aus? Welche Optionen blieben, und wie kamen die Betroffenen mit ihrer besonderen Situation zurecht? – Die bewusst einfache Schreibweise Scholls erleichtert es, das Denken und Fühlen der Handelnden nachzuvollziehen; mundartliche Ausdrücke versetzen einen in die jeweilige Region und die Atmosphäre der Zeit. Auch sinnliche Eindrücke tun dazu das Ihre. Geruch und Geschmack, das Haptisch-Taktile von Dingen: Dies lässt sich literarisch viel eher vermitteln als in wissenschaftlichen Texten zur Geschichte. Über die damals gängigen Medien Radio, Fotografie und Film wird dort und da Quellenmaterial eingespielt, ja mehr noch: In ihrem starken Einfluss auf die Gesellschaft wirken Medien als eigenständige „Akteure“ mit. Überhaupt gelingt der Autorin ein kulturhistorisch prägnantes Bild jener Zeit, sowohl was die Dingwelt wie die Denk- und Sprechweisen betrifft. Und nicht zuletzt grundiert das Thema der Geschlechterverhältnisse alle individuellen Geschichten: Der Roman bildet die Bandbreite an Frauensozialisationen jener Zeit ab, von der Zugehfrau oder Küchengehilfin am Land über Vertreterinnen des gehobenen jüdischen Mittelstandes und des Adels bis hin zum glamourösen Bühnenstar. Viele der Frauen erfahren sexuelle Gewalt, können über ihre reproduktiven Rechte nicht bestimmen und werden der ledigen Kinder wegen stigmatisiert; andere wiederum führen ein libertäres Leben und wählen sich Lover, wie es ihnen beliebt.
Aus dieser intersektionalen Sicht, die die Wechselwirkungen von Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Bildung, Konfession und Ethnie in den Blick rückt, bezieht der Roman seine Stärke. In einer Gesellschaft, in der die Geschlechterdifferenz zentrales Strukturprinzip ist, zeitigt ein Krieg nicht zuletzt auf der Ebene der Geschlechterverhältnisse seine Wirkung. Frauen müssen die abwesenden Männer in vielen Bereichen ersetzen und unter schwierigsten Bedingungen funktionieren. Das Buch ist auch eine Hommage an die weibliche Selbstbehauptung. „Man fragt sich ja, warum jetzt allein die Männer die großen Helden sind“, bemerkt die Haushälterin Rosi zum Ende.

Wohl weiß die Autorin auch männliche Schicksale auf differenzierte Weise zu schildern. Doch die „großen Helden“ bekommen zu Recht ihr Fett weg. Vor allem der „Führer“ bietet sich zur Demontage an – und hier zeigt sich abermals, was Literatur, was Kunst und Karikatur viel eher als Zeitgeschichte vermag: Wenn vom „Zahnbürstenbärtchen unter der Nase“ die Rede ist, wenn eine mit der Schreibmaschine versehentlich „Neil Nitler!“ tippt oder wenn Huberta über Hitlers Haar anmerkt, dass es eher ein helles „Straßenköterbraun“ war, und nicht das pomadig schwarze seiner Propagandabilder. Auch Scholls Montage der je ein paar Seiten langen Textpassagen gemahnt an die kritische Kunstpraxis jener Zeit: Die gezielte Gegenüberstellung kurzer Abschnitte aus dem Leben der Frauen führt den Leser:innen die teils unfassbaren Parallelwelten und Perversionen vor Augen. Besonders krass wirkt die erzähltechnische Engführung des makellosen Schauspielerinnenkörpers von Francine und der geschundenen, geschorenen Frauen im Lager Drancy bei Paris, über das Kitty, Lottes jüdische Tante, berichtet.
Solche Verbindungen zwischen den Handelnden und den Orten werden im Lauf der Lektüre evident; der harten Montage zum Trotz durchzieht ein feines organisches Gewebe den gesamten Text. Nicht allein das Erkennen der Zusammenhänge überlässt Scholl ihren Leser:innen. Ebenso ist es an ihnen, sich ein moralisches Urteil über die Protagonistinnen zu bilden. Wohl geht sie als Schriftstellerin anfangs so vor wie Wissenschaftler:innen, wenn sie in Archiven recherchiert, Dokumente sichtet und die bestehende Fachliteratur studiert (wovon die Quellennachweise am Ende des Buches zeugen). Hinsichtlich der Aufbereitung des Materials jedoch stehen ihr weitaus mehr Freiheiten zur Verfügung. Von realen Biografien ausgehend kann sie den Stoff sachte literarisieren, kann Lücken der Überlieferung durch Imaginiertes füllen. Ein literarischer Zugang macht das Lebensweltliche plastisch, und er erlaubt es auch eher, das große Geschehen von den Rändern aus zu betrachten – konkret etwa von dem im Salzkammergut gelegenen Aussee, wo einst das jüdische Großbürgertum seine Sommerfrische verbrachte und nun NS-Granden ihr Refugium vor dem Kriegsgeschehen suchen.

Diese über individuelle Frauengeschichten vermittelte Geschichte regt in vieler Hinsicht zum Nachdenken an. Wenngleich literarisch, ist es ein zutiefst politisches Buch, mit dem Sabine Scholl sich in eine entsprechende Linie einschreibt – nicht von ungefähr stellt sie dem Roman zwei Zitate von Inge Scholl und Sophie Scholl voran, zwei Widerständige, mit denen sie sichtlich mehr als nur der Name verbindet. Es ist zudem ein Buch, das für den Unterricht an Mittelschulen ebenso wertvoll ist wie für den akademischen zeithistorischen Diskurs. Denn zwischen denen „im Schatten“ und denen „im Licht“ tut sich ein weites Spektrum an Grauschattierungen auf, jenseits der simplen Scheidung in Täter:innen und Opfer. Eine differenzierte Sicht wie diese möchte man man sich in vielen einschlägigen Diskussionen wünschen!

Sabine Scholl Die im Schatten, die im Licht
Roman.
Berlin: Weissbooks, 2022.
352 S.; geb.
ISBN 978-3-86337-193-7.

Rezension vom 19.04.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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