#Roman

Die Holzapfelschwestern

Bernhard Moshammer

// Rezension von Simon Leitner

Wie würde die Welt aussehen, wenn unsere Zivilisation jäh zusammenbräche? Nicht vollständig, aber doch in solch einem Ausmaß, dass man von einer Zäsur sprechen, sich mit neuen Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten arrangieren müsste? Vielleicht würde sie sich ähnlich ausnehmen wie jene, die Bernhard Moshammer in seinem Roman Die Holzapfelschwestern entwirft: eine latent bedrohliche, düstere, feindselig anmutende Welt, voller Furcht, Misstrauen und Gewalt, mit einigen wenigen (verhältnismäßig) sicheren Häfen – dort, wo man sie vielleicht nicht unbedingt vermuten würde.

Dazu zählt etwa der Wald am Rande des Dorfes, in dem Maria und Regina, die titelgebenden Schwestern, ein wenn schon nicht beschauliches, so doch weitgehend ungestörtes Dasein fristen. Zumindest so lange, bis ihre ihnen bis dahin unbekannte, schwangere Halbschwester Sarah auftaucht, in ihrer Hütte Unterschlupf findet, einen Sohn gebärt und damit nicht nur die Welt der nunmehr drei Holzapfelschwestern auf den Kopf, sondern auch die Weichen für einige entscheidende Veränderungen stellt. Denn in der Folge werden insbesondere Maria und Regina plötzlich und in einer Art und Weise mit der „Außenwelt“, also der Welt jenseits des Waldes, konfrontiert, wie sie es sich niemals hätten vorstellen können.

Bis zu diesem Zeitpunkt kannten die beiden Holzapfelschwestern nämlich nichts anderes als ihren Verschlag und den umgebenden Wald. Dieser bot ihnen fast alles, was sie zum (Über-)Leben brauchten, und den Rest bezogen sie über ihre im Dorf wohnende Tante, die Mutter von Sarah, die ihre im Wald lebende Verwandtschaft seit jeher über Lebensmittelkörbe mit Waren versorgte, die es dort nicht gab. Abgesehen davon hatten Maria und Regina keinerlei Kontakt zu anderen Menschen, und folglich auch nicht zu anderen Bewohner:innen des Dorfes, unter denen deshalb schon bald allerhand Geschichten, Gerüchte und Mythen über die beiden Holzapfelschwestern kursierten: „Sie sind halb Mensch, halb Tier. Sie können weder sprechen noch lesen und schreiben. Sie erlegen Tiere mit bloßen Händen und Zähnen. Sie trinken frisches Tierblut. Sie trinken ihr eigenes Menstruationsblut. Eine von ihnen hält immer Wache am Waldrand – unsichtbar. Sie fliegen durch den Wald. Sie sind Herrinnen über Waldgeister und Dämonen. Sie reisen regelmäßig ins Jenseits. Sie haben den respektablen Holzapfeljoseph kaltblütig ermordet und im Wald verscharrt.“ Nicht alles davon ist frei erfunden …

Maria und Regina wurden im Wald geboren und sind dort aufgewachsen. Wäre Sarah nicht zu ihnen gekommen, hätte ihr Sohn Adam nicht ebenfalls dort das Licht der Welt erblickt, die Holzapfelschwestern hätten niemals Anstalten gemacht, den Wald zu verlassen. Denn dieser „war der Mantel, der sie schützte, der ihnen Zuflucht, Sicherheit und Geborgenheit bot und alles Böse von ihnen fernhielt“. Und das Böse, das war alles Unbekannte, alles, was von „draußen“ kam – vor allem Männer, die nur danach trachteten, ihre „Stange“, wie die Schwestern das männliche Geschlechtsteil nennen, in alles reinzustecken, worauf sie gerade (buchstäblich) Lust haben. Wie zum Beispiel der Holzapfeljoseph, der Vater der Schwestern, der bei dem Versuch, Maria zu vergewaltigen, von seinen Töchtern und deren Mutter getötet wird. Oder der Felsenreiter, der Vater von Adam, der diesen schließlich aufspürt und entführt, wodurch die Schwestern sich gezwungen sehen, ihren schützenden Mantel abzulegen und den Wald zu verlassen.

Das angrenzende Dorf ist nur wenige Gehminuten vom Wald und der Hütte entfernt, doch gewinnt man bei der Lektüre des Romans den Eindruck, als handle es sich dabei um zwei völlig verschiedene Welten, getrennt durch eine unsichtbare Barriere, die nur wenige zu übertreten wagen. Und es macht ebenfalls den Anschein, als seien sie nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich voneinander getrennt, als würde man mit jedem weiteren Schritt, den man in den Wald setzt, ein paar Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit reisen. „Die Welt und der Wald gehen nicht zusammen“, heißt es an einer Stelle, und das aus gutem Grund.

Darin zeigt sich eine große Stärke des Romans: Moshammer gelingt es schon auf den ersten Seiten, eine faszinierende Welt zu erschaffen, die trotz ihrer Fremdheit an jeder Stelle absolut glaubwürdig und seltsam vertraut wirkt. Dass der „große Kollaps“, der diese Welt heimgesucht hat, nicht genauer erklärt wird, tut diesem Umstand keinen Abbruch, im Gegenteil: Es trägt zur düsteren Grundstimmung und der bedrohlichen Atmosphäre bei, die ständig zu spüren ist, selbst wenn man als Leser:in nicht immer genau sagen kann, worin sie sich nun äußert.

Wie Moshammer der Übergang vom Kammerspiel im Wald zu einer fast biblischen Geschichte gelingt, ist ebenfalls zu bewundern: Man ist gerade am Beginn des Romans dermaßen auf die beiden Holzapfelschwestern und ihren Alltag fokussiert, dass man für eine Zeitlang beinahe vergisst, dass das archaische Leben, das Maria und Regina (und später ebenso Sarah und Adam) im Wald führen, nicht die Norm ist – auch nicht in dem Universum, in dem die Geschichte spielt. Und als sich diese öffnet, als die Schwestern ihre sichere Umgebung verlassen, reagiert man erst ähnlich widerwillig auf diese Veränderung wie die beiden Protagonistinnen: Eigentlich will man nicht wirklich raus aus dem Wald. Aber man weiß, dass es nicht anders geht, denn draußen wartet nun mal die Welt, und nicht alles darin ist schlecht. Selbst wenn es vielleicht von Zeit zu Zeit diesen Anschein haben mag.

Bernhard Moshammer Die Holzapfelschwestern
Roman.
Wien: Milena, 2022.
294 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-96-1.

Rezension vom 14.12.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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