#Roman

Die Halbe Welt

David Bröderbauer

// Rezension von Johanna Lenhart

Wir alle sind Täter. Vergessen wir das nicht“, stellt der Protagonist Lilian zu Beginn von Die halbe Welt fest.

Wir alle sind verantwortlich für die Zerstörung des Planeten. Eine Einsicht, die in David Bröderbauers drittem Roman zur Prämisse eines Gedankenspiels wird: Angesichts des rasanten Aussterbens zahlreicher Spezies hat sich ein großer Teil der Weltgemeinschaft der Idee der „Halben Welt“ verpflichtet. Die Menschen ziehen sich aus der Hälfte der Welt zurück, um der Natur Raum zur Regeneration zu geben. Weder Zutritt noch Zugriff auf die Natur jenseits der Grenze ist gestattet: Der Mensch hat sein „Anrecht auf die Halbe Welt bis auf Weiteres verwirkt.“ (S. 7)

Diese Prämisse geht auf eine Idee des einflussreichen Biologen E.O. Wilson (1920-2021) zurück. Koryphäe auf seinem Gebiet, schlägt Wilson in einem seiner letzten Bücher, „Half-Earth: Our Planet’s Fight for Life“ (2016), eine aus seiner Sicht angemessen radikale Lösung für den exorbitanten Rückgang an Biodiversität vor: 50 Prozent der Erdoberfläche sollen zu Reservaten umgewandelt werden, um nicht nur das Überleben vieler anderer Spezies zu garantieren, sondern auch jenes des Menschen. Bröderbauer, selbst Biologe, spinnt diese Idee weiter, die Halbe Welt ist Wirklichkeit geworden: Menschen, die bisher in den Territorien der neuen „Schutzgebietsinseln“ (S. 122) gelebt haben, wurden „transferiert“, wie der behördliche Euphemismus für Vertreibung oder Enteignung lautet, Fleischproduktion wurde in Labore verlegt, Haustiere gibt es keine mehr: „In der Halben Welt wird die Wildnis bewahrt, nicht der Mensch.“ (S. 60) Nachdem das Zusammenleben von Mensch und Natur gescheitert scheint, hilft nur noch ihre radikale Trennung. Als letzter Ausweg soll die Welt zu Gunsten der Natur neu geordnet werden.

Einer der Grenzwächter der Halben Welt ist Lilian. Er arbeitet bei der namenlosen Behörde, die die beiden Welten verwaltet, und entscheidet über Anträge von Wissenschaftler:innen und Mäzen:innen, die die Halbe Welt besuchen wollen. Als Biologe und ehemaliger Aktivist ist Lilian zwar ein Verfechter der Halben Welt, kommt aber zusehends nur schlecht mit dem Leben in der menschlichen Hälfte der Welt und der Trennung von der Natur zurecht. Die Städte, in denen die Menschen leben, um Platz für Agrarflächen zu schaffen, sind vollständig digitalisiert, optimiert und kontrolliert. Lilian wohnt in einer ihm zugewiesenen „Wohnbox“ (S. 125), eine spezielle Brille ermöglicht ihm Zugriff auf eine Vielzahl an Informationen und überwacht seine Körperfunktionen, frische Lebensmittel sind ein seltener Luxus. Obst, Kaffee, Wald kennen die Menschen nur noch aus Kindheitserinnerungen oder über die Vermittlung der „Halbweltfenster“ (S. 144). Bildschirme, die das Leben in den Städten begleiten und die Wildnis jenseits der Grenze zeigen: Nashörner, die sich im Schlamm suhlen, Tukane in Baumkronen. Bildschirme, die vermitteln sollen, wofür die Einschränkungen und die subtilen und weniger subtilen Brutalitäten der Behörde notwendig sind. Die menschliche (Erfahrungs-)Welt ist geschrumpft und gleichzeitig virtuell ins quasi Unendliche erweitert: Elektronische Gehirnimplantate ermöglichen den Zutritt in einen „Kopfraum“ (S. 41), eine virtuelle Welt, die ihre Träger:innen aber zunehmend in die Isolation und Weltentfremdung treibt.

In drei große Abschnitte geteilt, wird die Geschichte und Gegenwart der Halben Welt jeweils in zwei Strängen erzählt: Der eine ist ein von Lilian in Ich-Form verfasster Bericht über die neugeordnete Welt. Er versteht sich als Chronist, der emotionalen Abstand zu seinem Gegenstand wahrt, und versucht, nachfolgenden Generationen die Notwendigkeit des Errichtens der Halben Welt verständlich zu machen. Als Anlass und Aufhänger dienen ihm dabei zwei in der Halben Welt Verschwundene, ein Biologe und ein Milliardär, nach denen er sich auf die Suche macht. Der zweite Strang dagegen ist auktorial erzählt und verfolgt die langsame Renaturierung Lilians selbst. Von der isolierten Existenz im Großraumbüro geplagt, verlässt Lilian immer mehr die von der Behörde vorgegebenen Wege, bis er eines Tages – ganz in der Tradition von Mellevilles Bartleby – einfach nicht mehr hingeht. Stattdessen involviert er sich immer mehr in das Leben anderer, in das Leben der Partnerin des verschwundenen Biologen und in jenes einer Gruppe von Migrant:innen und Aussteiger:innen, die im Botanischen Garten leben und Pétanque spielen – einer der letzten Freiräume, die diese Hälfte der Welt noch zu bieten hat.

Denn was in der Trennung von Natur und Menschen abhandengekommen ist, ist der Sinn für Gemeinschaft, für (Körper-)Kontakt und Austausch mit Menschen außerhalb des virtuellen Kopfraums, aber auch mit der Natur. Etwas zu „spüren“ (S. 50) ist nicht vorgesehen, wie die beharrliche Streichung des Wortes aus dem Bericht durch den virtuellen Textassistenten anschaulich zeigt. Was in der „Neuordnung der Welt“ (S. 8) auf der Strecke geblieben ist, könnte man die Biophilie nennen, die dem Menschen (zumindest in der Sicht von E.O. Wilson) angeborene Fähigkeit, sich anderen Spezies zuzuwenden, Erfüllung im Kontakt mit der Natur zu finden. Eine Begabung, die in den volltechnisierten Städten der neuen Welt keinen Platz mehr hat. Lilian dagegen wird immer mehr zu jemandem, der für andere sorgt, der soziale Verbindungen herstellt und einen Ausweg aus seiner isolierten Existenz findet.

Bröderbauers Spekulation über die Idee der Halben Welt vermittelt nicht nur interessante wissenschaftliche Positionen zu Umweltschutz und Aktivismus, sondern vor allem auch Überlegungen zu Gemeinschaft, zur Position des Menschen in der Welt, und ob und wie das Leben des Menschen in oder mit der Natur stattfinden kann. Dabei lässt der Roman auch in die Zukunft extrapolierte politische Aspekte nicht aus, das Dilemma mit privaten Geldgeber:innen, die demokratische Prozesse umgehen, die Rolle von NGOs, Migration. Trotz – oder vielleicht wegen – der wissenschaftlichen Ansätze, die dem Roman zugrunde liegen, packt der Text und öffnet beim Lesen Imaginationsräume, nicht zuletzt wegen der feingliedrig-ambivalenten Zeichnung Lilians: Auf seinen rastlosen Wegen durch die Stadt scheint er konstant zu flimmern, verunsichert und doch seinen Weg suchend. Bröderbauer gelingt so eine kluge, plastische Reise in eine Welt, die nicht mehr nach dem Primat des Menschen geordnet ist, in all ihrer Zwiespältigkeit.

David Bröderbauer Die Halbe Welt
Roman.
Wien: Milena, 2023.
248 S.; geb.
ISBN 978-3-903460-08-9.

Rezension vom 03.04.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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