#Biografie

Die gute alte Zeit

Günter Brus

// Rezension von Karin Cerny

Der Künstler als junger Taugenichts: Beschwingt wie einst Eichendorff lässt der Aktionist Günter Brus, geboren 1938, sein Alter Ego durch das oft böse Reich der Kindheit ziehen.

Zwei Schauplätze: Das abenteuerliche und abwechslungsreiche Leben auf dem Land im Ennstal beim geliebten Großvater, der gehasste „Chefvater“, wie dieser sich selbst zu bezeichnen pflegte, ein Nazi, „ein Mann, der mir mehr Skulptur als Mensch war“, der den Jungen „heim ins Reich“, ins verhasste südsteirische Mureck, schleppt. Eine Kindheit zwischen den Fronten, und ein Junge, der schon früh die Gegenwelt der Fantasie für sich entdeckt. „Ich kam mir vor wie ein halbiertes Schlachtvieh. Um mich vor dem gänzlichen Ausbluten zu retten, trat ich die bewährte Flucht in die Fantasie an.“

Die Selbstbiografie eines der bekanntesten heimischen Aktionisten beginnt wie eine Kindheitsgeschichte, die zur heimischen Literatur gehört wie die Alpen zu Österreich. Eine blutige Kriegs- und Nachkriegsbiografie: Wie Brus und sein Großvater vom Balkon das Fernglas auf einen nahen Kriegsschauplatz richten und „rennende und brennende Menschen, Flammen- und Rauchsäulen“ sehen, wie man sich in die Schlachthalle des Fleischhackers stiehlt, wie ein Junge seinen Körper („meinen nackten Leib“) auf dem Dachboden abklopft, „um eine dumpfe Musik zu komponieren: eine Akupressur-Sonate“. Eine enge ländliche Welt aus Blut, Schweiß, Angst, Sexualnot und Verklemmtheit, und wie einer versucht, daraus auszubrechen, ein Künstler, sprich Schriftsteller zu werden. Ingredienzien, die Brus aber nicht zur Leidensgeschichte stilisiert. Erzählt in einem „Lustig-ging-ich-meiner-Wege“-Taugenichts-Ton („aber für einen rechtschaffenen Dichter war ich, wie ich meinte, ein zu guter Fußballer“), zugleich in einer prallen bilderreichen Sprache („ging in allen meinen Innereien die Sonne auf“), die unbekümmert Dinge belebt („Einmal hatte mein Großvater ein Fahrrad, aber keine Pumpe. Das Fahrrad rang nach Luft, bekam aber keine“). Ganz „durchschnittlich“ das Schwärmen für die Zeichenlehrerin, „welche deutlich älter als meine Frühreife war“. Aus den Hasen im Kaninchenstall wird der Junge im Kaninchenstall, der geschlachtet wird: „Wie schmecken meine Nieren, dachte ich, und welche Apfelsorte passt dazu?“

Überlegungen zur Kunst findet man nur sehr vereinzelt („In Wahrheit: Mir ekelte meistens vor meiner Kunst. Immer wieder strebte ich zu einer Art Nicht-Kunst hin […]“). Brus erzählt bis zu seinen ersten Erfolgen als Maler, wie er an den Kunsterziehungsanstalten und an der Akademie aneckt. Beschreibt einen gewissen Größenwahn und gesteht einmal: „In Wahrheit war ich innerlich häufig konservativer, als ich mich nach außen hin gab“.

Die gute alte Zeit steht wie die Hauptfigur ein bisschen zwischen den Fronten. Es könnte eine spannende Erzählung sein, ein Versuch über die Kindheit und Pubertät, wäre es nicht zu lang, zu ausufernd, zu sehr auf assoziative Selbstbiografie hin geschrieben, hätte es eine strengere Form. Es könnte eine spannende Selbstbiografie sein, wäre es nicht zu ambitioniert im literarischen Sinn. Im Buch heißt es einmal: „Um dieses Buch beginnen zu können, musste ich zunächst einmal die Gefilde der Frechdachsereien von Groucho Marx oder Luis Bunuel erkunden, da beispielsweise Oskar Kokoschka mir keinerlei Anregungen verschaffte mit seinem stumpfsinnigen Memoirentitel ‚Mein Leben'“. Erzählen will das Buch, wie einer, dessen Kopf voller Bilder war, als Dichter in seiner Jugend gescheitert ist. Letztendlich führt es aber vor, wie jemand noch immer nicht aufgehört hat mit dem Schreiben, aber mit der Disziplin umgeht wie ein Schüler, der gegen die Eltern rebelliert. Ein Buch, das wuchert, sich über manches ein bisschen hinwegschummelt, aber viel Talent verspricht. Zurück in die Zukunft: In retrospektiver Perspektive könnte man sagen: abwarten, was aus dem vielversprechenden jungen Mann noch alles werden wird.

Günter Brus Die gute alte Zeit
Selbstbiografie.
Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2002.
270 S.; geb.; m. Zeichnungen.
ISBN 3-902144-28-9.

Rezension vom 09.04.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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