#Prosa

Die Geschichte geht so

Martin Kolozs

// Rezension von Martina Wunderer

„Niemand stirbt so arm, dass er nicht irgend etwas hinterlässt“, schreibt Pascal. „Gewiss auch an Erinnerungen“, ergänzt Walter Benjamin.
Geschichten werden auf der ganzen Welt und jeden Tag erzählt. Zwischen allen möglichen Menschen. Von der Großmutter dem Enkel, vom Freund dem Freund, einem Unbekannten in der Straßenbahn und der zufälligen Bekanntschaft auf Reisen. Lügengeschichten, Heldengeschichten, Kriegsgeschichten, Liebesgeschichten.

Doch „dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein“, meinte Rilkes Malte Laurids Brigge schon vor hundert Jahren. Wie es zu diesem Ende der Erzählungen kam, erklärt Walter Benjamin in seiner Studie über Nikolai Lesskow: „Der Erzähler – so vertraut uns der Name klingt – […] ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes“, denn „Geschichten erzählen, ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden.“
Oder wenn niemand mehr zuhören mag – dann kann man durchaus seltsam werden und anfangen, mit sich selbst zu reden. So wie es auch dieser Mann einmal begonnen hat. Der Namenlose erzählt eine Geschichte im Selbstgespräch, er ist Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen, das erzählende Ich und seine Wirklichkeit sind Produkte schöpferischer Einbildung, doch nicht der eigenen, sondern der Märchenerzähler vergangener Zeiten. Die daraus resultierende Unsicherheit über die eigene Identität und den eigenen Stoff schlägt sich auch in der Textstruktur von Kolozs‘ Erzählung nieder, die unter Verzicht auf Linearität in einundvierzig Kapiteln ein Spiegelkabinett aus intertextuellen Bezügen, poetologischen Reflexionen und selbstreferentiellen Textverweisen entwirft.
Also es war einmal dieser Mann. Ein einsamer, schrulliger alter Mann in einer feuchten, kleinen, mit Nippes vollgestellten Stadtwohnung. Der Ich-Erzähler, ein Psychiater, soll nach ihm sehen. Er stellt Fragen nach seinem Befinden, nach seiner verstorbenen Frau, ob er an Gott glaube und ob er allein zurechtkomme. Aber er sei nicht allein, entgegnet der Alte, Zwerge, Ritter, Seeungeheuer leisten ihm Gesellschaft, und Henriette, seine Frau, sei ja nach ihrem Tod auch nur ins obere Stockwerk gezogen, denn wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute, das weiß doch jedes Kind.

Ausgefallene Vergleiche, kühne Metaphern und Assoziationen, Wortspiele und Stilwechsel kennzeichnen die Erzählerreden, sie verfremden das Alltägliche und verleihen ihm eine herausfordernde poetische Wirklichkeit. Durch die intertextuelle Verstrickung der Figuren, die Verschränkung der Erzählebenen und durch das fließende Ineinander von Erinnerung und Wachtraum, von Erfahrung und Erdichtung entfaltet sich so vor dem Auge des Lesers ein Zwischenreich von Realität und Phantasie, das Reich der Fiktion.
Dort begegnet der Ich-Erzähler – als ein anderer – dem Zauberer und wird sein Lehrling. Während er ihm dabei hilft, einen Gedanken zu verfolgen, macht er Bekanntschaft mit der weißen Frau aus dem Wald, mit dem Gedankenverwalter und dem bösen Gedanken, der der Aufmerksamkeit des Torwärters – ein moderner Charon – entschlüpft ist und nun alle Erinnerungen des Zauberers und damit auch ihn selbst zu verschlingen droht. Er zieht sie ins Vergessen. Weil dorthin kann ihm keiner von uns folgen, ohne selbst vergessen zu werden.

„Nun ist es aber an dem“, so Walter Benjamin, „dass nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen, sondern vor allem sein gelebtes Leben – und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt.“ Gerade am Ende des Lebens eines Einzelnen drängen seine Lebenserinnerungen zur Mitteilung, um sie der Nachwelt zu bewahren. Vergiss mich nicht und die Geschichte wird weitergehen, fleht der Zauberer, nun eins mit dem Alten, seinen Lehrling, Arzt und Erzähler an. Denn als Erinnerungswerk ist Erzählen eine Form des Widerstands gegen die Zeit und gegen den Tod – man denke nur an Scheherazade, die durch ihr Erzählen in 1001 Nacht das Todesurteil aufzuschieben vermag. Erzählen ist aber auch eine Form der Ich-Suche und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Und so ist es Kolosz’ Erzähler am Ende doch noch möglich, sich selbst erzählend Ich zu sagen:

„Nun“, sagte ich, „die Geschichte geht so…“

Martin Kolozs Die Geschichte geht so
Erzählung.
Mit einem Vorwort von Felix Mitterer.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2008.
64 S.; geb.
ISBN 978-3-85252-748-2.

Rezension vom 01.08.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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