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#Prosa

Die Gerissene

Eva Schörkhuber

// Rezension von Walter Fanta

Marseille – Oran – Sahara – Habana!

Das Mädchen Mira begibt sich auf den Weg, Mira schlägt sich durch, bis sie ihre Sehnsuchtsorte erreicht. Ihre Schauplätze sind auch die Schauplätze von uns Leser/inne/n, sofern wir ähnliche Fantasien haben wie dieses Gastarbeiterkind, das der Tante die Strümpfe zerissen und dem Onkel den Hut samt Toupet vom Kopf gerissen hat. Beim Lesen träumen wir die Reiseträume mit und freuen uns über jeden Coup, der Mira gelingt.

Das Faszinosum des Buchs liegt in der exotischen Ferne. Dazu gehört auch der Hafenbezirk von Marseille, ein Ort des Ankommens für viele, deren Herkunftsstätten in Afrika Mira nachfährt. Oran wird von Mira auserwählt, weil es die Stadt von Camus’ Pest ist. Von dort geht die Fahrt weiter bis tief in die Sahara in ein Flüchtlingslager inmitten der Sandwüste. Im dritten Teil des Buchs bricht Mira nach Kuba auf, in das heruntergekommene sozialistische Paradies. Stets von neuem gelingt es der bildreichen Sprache von Miras Ich-Erzählung, die Orte vor unseren Augen zum Leben zu erwecken, stets mit denselben Mitteln, nämlich uns beim Lesen die Illusion vom Wirklich-Dortsein zu geben. Dabei bergen das chaotische Treiben in einer mediterranen Metropole wie Marseille, die müden Heimlichkeiten in einer maghrebinischen Siedlung, die absolute Leere der Wüste und die Buntheit und Vitalität der Karibikinsel Erfahrungen, die an Unterschiedlichkeit kaum zu überbieten sind. Ich vergleiche die intensive Genauigkeit der Reisebilder mit denen anderer Autorinnen, die ich mit ähnlichem Genuss gelesen und im Buchmagazin rezensiert habe, und zwar mit Verena Stauffer, Orchis und mit Valerie Fritsch, Herzklappen von Johnson & Johnson. Das Gemeinsame von Schörkhuber, Stauffer und Fritsch liegt im ehrlichen und unumwundenen postkolonialen Blick. Die exotischen Orte der Erzählung – ich assoziiere den ersten Karl-May-Band Durch die Wüste – entstehen aus den Worten deutschsprachiger – nun weiblicher! – Erzählerinnen noch einmal und anders neu. Die Gerissene handelt im global village, bei jedem Schritt tritt Mira auf Tretminen des Kolonialismus. Aus ihrer unbändigen Lust zu entdecken schreibt sie die Geschichte der besuchten Städte und Länder neu. Als Leser fühle ich mich auf diese Schauplätze entführt, auf einer imaginären Reise auf Pfaden jenseits des Tourismus, wenn sie sich auch immer wieder mit diesen kreuzen.

Zauberwort – Revolution!

Die Reiseziele sind für einen ganz bestimmten Zweck ausgewählt: Für die Verwirklichung des Traums, weibliches Aufbegehren ganz groß, eben global zu inszenieren. Ein legitimes Begehren. Es ist längst Zeit dafür. Was es sympathisch erscheinen lässt und Spaß beim Lesen bereitet: das Augenzwinkernde, Selbstironische daran. Überall, wo sie hinkommt, zettelt Mira Revolutionen an: eine Revolution der Mode in Marseille, die Wiedererweckung des eingeschlafenen revolutionären Unabhängigkeitskampfs in Algerien und der sozialistischen Revolution in Kuba. Mira geht es um die Liebe zur Revolution aus Prinzip. Spätestens in Habana wird klar: Frauen geben den Ton an. Der revolutionäre Pussy-Riot-Wunsch wird mit ungenierter Offenheit aus der kindlichen Sehnsucht nach Rebellion eines Mädchens aus dem Dorf abgeleitet, dessen Eltern mit Migrationshintergrund in einem Schlachthof arbeiten, und das beim Erwachsenwerden aus dieser Enge ausbrechen will. Große Künstlerinnen müssen eben aus solchen Verhältnissen kommen. Das Mittel Miras, mit dem sie überall die Revolution entfacht, ist immer das Gleiche und höchst originell: Aus Stoffresten verfertigt sie die Symbole des Widerstands. Aus Stofffetzen entstehen Kunstwerke. Kunst als Mittel der Revolution. Keine Revolution ohne künstlerische Inspiration, jedes künstlerische Schaffen ist revolutionär. So interpretiere ich die Kreationen der Gerissenen in Marseille, in Oran, im Flüchtlingslager in der Sahara und in Habana.

Mira – das Wunder!

Das Wunderwesen Mira ist eine Streunerin, ein kindlich-weiblicher Schelm, eine neue Simplicissima. Die Literaturhistoriker haben ja den Barockroman von Grimmelshausen in die Reihe vor den bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsromanen gestellt. Die Anleihen, die Die Gerissene aus der frühneuzeitlichen pikaresken Tradition nimmt, sind nicht zu übersehen. Es gibt sehr viel Witz in dem Buch, die Lektüre bereitet Vergnügen. Ich könnte Mira so betrachtet auch als Doña Quijote bezeichnen, die der untergehenden Species der Ritterinnen-Revolutionärinnen den Spiegel vorhält. Weibliche Selbstfindung gelingt dabei allemal, mitunter auch nach einem Kampf gegen Windmühlen. Manchmal sind die Windmühlen Männer. Am Ende steht ein gestärktes Ich bzw. das Ich einer starken Frau. Das legen die drei Leseproben nahe, besonders die aus dem Epilog.

Die Gerissene.
Roman.
Wien: Edition Atelier, 2021.
327 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99065-047-9.

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Rezension vom 16.03.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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