#Prosa

Die gelbe Linie

Rudolf Lasselsberger

// Rezension von Helmuth Schönauer

Im öffentlichen Raum gelten teils sichtbare, teils unsichtbare Grenzen, deren Überschreiten mehr oder weniger konsequent geahndet wird. Wie bei allen Grenzen hat jemand, der eine solche zieht, andere Begründungen für ihre Sinnhaftigkeit, als jemand, der sie überschreiten will. Eine besondere Grenze, die wegen ihrer Lächerlichkeit fast lückenlos respektiert wird, ist in U-Bahnen und auf Bahnhöfen die sogenannte „gelbe Linie“, die verhindern soll, dass sich geschwächte oder beeinträchtigte Fahrgäste der Garnitur nähern, obwohl diese noch gar nicht eingefahren ist.

Rudolf Lasselsberger nimmt diese wundersame „gelbe Linie“ zum Anlass, um sich an ihr durch den Dschungel von Ereignissen zu kämpfen, die jeweils zwischen öffentlich und privat oszillieren. Jeder Mensch steht nach dieser Überlegung an einer gelben Linie, die sich täglich ändert. An ihr prallen manche Ereignisse ab, andere diffundieren und werden zu einer rein privaten Empfindung.
Die Literatur lebt von dieser phänomenalen Grenzziehung zwischen privat und öffentlich, schon seit Jahrhunderten lernen die Leser aus den privaten Schicksalen, um daraus einen persönlichen Nutzen zu ziehen, andererseits orientiert sich der Staat samt seiner Öffentlichkeit gerne an literarischen Vorlagen, um daraus heldenhaftes Benehmen und glorreiche Daseinsbewältigung zu lukrieren. Die gelbe Linie ist dabei ein Leitfaden, wie man über diese Geschichten diskutieren kann, ohne sich selbst, andere oder gar das Staatsgebilde zu gefährden.
Rudolf Lasselsberger hat neugierig eine Angelschnur ins Wasser des Daseins geworfen und ist nun selbst gespannt, was an ihr kleben geblieben ist, wenn er sie aus dem Pott des Alltags herauszieht.
Offensichtlich geht diese Fangschnur bis ins Unterbewusstsein hinein, tief in die österreichische Seele, denn in regelmäßigen Abständen kommen kleine Nazipartikel zum Vorschein, sogenannte Einzelfälle, die sich verschämt im Scheinwerferlicht der Zeitgeschichte winden, wenn sie aus der braunen Tunke herausgehoben werden. Über weite Strecken werden diese Eingeweide aus einer überwunden geglaubten Zeit zum Trocknen ausgelegt, die Wiederbetätigungen und Verharmlosungen brutalen Gedankenguts sprechen für sich selbst. An manchen Tagen hört es gar nicht auf, man müsste das Förderband der Geschichte abstellen, wollte man die Fundstücke der dunklen Seele Österreichs unsichtbar machen.
Neben den ausgelegten Notizen und Ausrissen aus dem täglichen Nachrichtenabfall macht sich der Held, ein gewisser Franz, daran, Ordnung in sein Leben zu kriegen. Vieles in seinem Lebenslauf ist zufällig und in mäandernden Querverläufen geschehen. Weit und breit keine gelbe Linie, mit der man sich straff durch die eigene Biographie voran tasten könnte. Die kleinen Zeichnungen von Erich Sündermann wirken dabei wie Querschläger. Er zeichnet als Freund des Autors schon seit Kindheitstagen jene Welt mit, die der literarisch angelegte Franz in kurze Kapitel zu fassen versucht. Diese Zeichnungen mit zartem Bleistiftstrich erinnern an Spielkarten, die einer subtil verschleierten Gesellschaftsordnung unterliegen. Wo üblicherweise Unter, Ober und König das Sagen haben, zeigen hier fantastische Gebilde aus Königskerzen und Jupiter-Ringen, dass in der Kunst niemand wegen eines anderen unter die Räder kommen muss.
Schlüsselstelle der Textsammlung ist jene kleine Ausfahrt nach Bad Aussee, die auf ein Stipendium einer Eintagsfliege zurückzuführen ist. Franz versucht ein Schreibprojekt abzuwickeln, indem er über seine Kindheit hinausfährt. Der erste Teil der Anreise entspricht ja noch dem logischen Vorsatz, etwas aus seinem bisherigen Leben aufzusammeln und neu zu ordnen, aber dann schießt er mit dem Zug bis nach Bad Aussee hinaus, das ja als Herz von Österreich gilt. In der Absteige freilich verläuft alles so, wie er es in seiner Wiener Wohnung eingeübt hat, er kommt kaum zum Schreiben, weil ständig im Fernsehen das gleiche Programm läuft wie in Wien. Das österreichische Fernsehen scheint ein Universalsender zu sein, der überall im Land gleich heftig empfangen werden kann. Und siehe da, jetzt tauchen wieder diese Meldungen von den Einzelfällen auf, kaum dass die Sendung mit dem Buchantiquar Wilsberg vorbei ist.
Unvermittelt bietet sich dann doch eine Ordnung im aufgehäuften Material an, die Jahreszahlen 2018 und 2019 suggerieren eine Einmaligkeit des Erlebten, dabei halten sich Erlebnisse nie an Jahreszahlen.
Ein umfangreiches Inhaltsverzeichnis schlägt dem Leser neue Schlüsselwörter vor, indem sich zuvor gelesene Kapitel mit einem kurzen Begriff aufrufen lassen und so für eine neue Deutung parat stehen. Dabei kommt allmählich ein ähnlich fetter Sinn-Strang Österreichs zum Vorschein, wie es der eingangs angelegte Wiederbetätigungspfad ist. Es ist die Notstandshilfe, die prekäre Menschen auf Schritt und Tritt begleitet und sie in ein schmerzliches Dilemma führt: Schlägt so jemand diese Existenz-Spende aus einem gewissen Reststolz heraus aus, verhungert er physisch und als Sprichwort, nimmt er sie in Empfang, wird er argwöhnisch gemustert, ob sie ihm wohl zu Recht gewährt worden ist.
Im Fernsehen sind zu diesem Thema immer zynische Personen zu sehen, wie etwa eine ehemalige Sozialministerin aus dem Kernölland, die im Handstreich die Krankenkassen vernichtet hat und sich dann über das Notstandsgeld hermacht. Aus der Sicht von Franz, der dieses Desaster täglich in allen Nuancen aus dem Fernseher und einer flachen Zeitung abruft, wird dabei mehr überschritten als eine gelbe Linie.
Rudolf Lasselsbergers zeitgeschichtliche Schürfanlage arbeitet im Tagebau, Tag für Tag. Dabei setzt sie alle Stufen der Wirksamkeit ein, vom genauen Zitat über die visualisierte Phantastik bis hin zu schlechten Alpträumen des Helden. Es kommt immer das gleiche Material zu Tage, von dem Wittgenstein einst gesagt hat: Das Leben ist nirgendwo leicht.

Rudolf Lasselsberger Die gelbe Linie
Eine Nachricht.
Mit Zeichnungen von Erich Sündermann.
Wien: loma/druck.at, 2021.
205 S.; brosch.
Keine ISBN.

Rezension vom 25.05.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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