#Roman
#Debüt

Die Gegenstimme

Thomas Arzt

// Rezension von Harald Gschwandtner

„Palmsonntag, April 1938, und der Ort ist geschmückt.“ Doch man feiert an diesem 10. April nicht den Einzug Jesu in Jerusalem, sondern legitimiert nachträglich den ‚Anschluss‘ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich.

Karl, der Bleimfeldner Karl, ist zu diesem Anlass aus Innsbruck, wo er Geschichte studiert, in seinen Heimatort zurückgekehrt. Der Name der Ortschaft fällt im Text nie, doch man kann aufgrund verstreuter Indizien annehmen, dass sie dem Geburtsort von Thomas Arzt, dem oberösterreichischen Schlierbach, nicht unähnlich ist. Und der Autor hat in Interviews ausgeführt, dass und auf welche Weise die literarische Figur, die er ins Zentrum des Romans Die Gegenstimme gestellt hat, mit der Geschichte seiner Familie zu tun hat: Karl Bleimfeldner war der Bruder von Arzts Großmutter – und ein Mensch, von dem man in der Familie und im Ort vieles erzählte und von dem man einiges doch nie so ganz genau wusste.

Mit seinem ersten Roman, der im Residenz Verlag erschienen ist, hat Thomas Arzt sich auf die Spuren seines Großonkels begeben, hat akribisch recherchiert und dabei versucht zu eruieren, wie es dazu kam, dass er im April 1938 als einziger Bewohner Schlierbachs mit „Nein“ stimmte: „Laut damaliger Zeitungsberichte gab es in diesem Ort tatsächlich nur diese eine Gegenstimme, daneben eine ungültige, sowie 1.153 Wahlberechtigte, die aus einem brodelnden Mix aus Angst, Hoffnung, Mitläufertum, heimlicher Neigung und offenem Fanatismus mit Ja stimmten“, so Arzt in einem ausführlichen Gespräch mit dem Magazin Buchkultur. Die Bandbreite der Einstellungen zum neuen Regime, die der Autor hier umreißt, prägt auch den Roman.

Karl Bleimfeldner steht zwar im Zentrum des Geschehens, doch weder wird er zum heldenhaften Widerständler stilisiert noch wird seine Motivation, mit „Nein“ zu stimmen (und damit sich und seine Familie in Gefahr zu bringen), je vollends klar. Ahnt der Student, der in Innsbruck mit großem Interesse Vorlesungen zur Zeitgeschichte hört, was auf Österreich zukommt, oder will er mit seinem Einspruch zuallererst seine sozialistische Freundin Erika beeindrucken? In welchem Verhältnis steht das „Nein“ zu seiner (früheren?) Begeisterung für Kurt Schuschnigg und den Ständestaat? Lehnt er mit seiner „Gegenstimme“ am Ende vor allem das ab, was Thomas Bernhard später den „Herkunftskomplex“ bezeichnen wird: „Du stimmst nicht gegen irgendeine Politik da draußen oder da oben“, sagt sich Bleimfeldner einmal. „Du stimmst einzig und allein gegen dein Daheim.“ Eine zentrale Stärke des Romans liegt darin, nie auf einseitige Interpretationen zu verfallen, sondern Ambivalenzen zuzulassen und feine charakterliche und soziale Schattierungen zu zeigen. Arzt ist kein nachträglicher pädagogischer Erklärer, sondern ein literarisch versierter In-Szene-Setzer.

Das Figurenensemble des Romans ergibt ein vielfältiges Sozialpanorama; der Druck, unter dem alle im Ort auf die eine oder andere Weise stehen, bringt die Ängste und Nöte, die Stärken und Schwächen der Menschen überdeutlich zum Vorschein: die Tochter des neuen NS-Bürgermeisters ruft zur Jagd auf den Widerständler auf – und bekommt dann doch kalte Füße, als sie merkt, was das Resultat ihres Eifers sein könnte; Karls Vater, der an Leib und Seele versehrt aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist, schwankt in der Beurteilung dessen, was sein Sohn vorhat und durchzieht; der Huber Seppl, von allen als Dorftrottel abgestempelt, denkt und sieht doch klarer als viele andere, wohl auch deshalb, weil das neue Regime für ihn keine Verheißungen zu bieten hat, die den Blick trüben könnten. Stattdessen ahnt er dunkel, dass die neue Zeit für ihn nichts Gutes bringen wird: „er fürchtet den Moment, da einer kommen wird und sie ihm abspricht, die Fähigkeit zur Willensäußerung“; der fanatische Förster ringt am Tag der Abstimmung mit der Frage, wie er Hitler am überzeugendsten huldigen kann, ob durch das Fällen oder vielmehr das Freischlagen seines schönsten Baumes, um die „Führereiche“ in all ihrer Pracht zu präsentieren. Die einen reagieren mit Unmut und Zorn auf Bleimfeldners „Gegenstimme“, andere mit verschämter Bewunderung.

Eine Besonderheit des Romans ist zweifellos seine sprachliche Gestalt, in deren Rhythmus man erst hineinfinden muss. Arzts Erzählduktus orientiert sich an der gesprochenen Sprache, nimmt umgangssprachliche Wendungen und syntaktische Konstruktionen des Mündlichen auf, und macht doch immer deutlich, dass es sich hier nicht um dokumentarisches Nachspielen handelt, sondern um literarisches, um künstlerisch geformtes Erzählen. Historische Redeweisen und Diskursfäden werden miteinander vernäht und verwoben, sodass manchmal unklar bleibt, wer hier eigentlich spricht, in wessen Sprachkleid der Erzähler gerade schlüpft.

Vor zehn Jahren ist Arzt mit dem Stück Grillenparz (Uraufführung am Wiener Schauspielhaus) an die Öffentlichkeit getreten; mittlerweile zählt er zu den erfolgreichsten Theaterautoren Österreichs. Die Gegenstimme hat wichtige Impulse aus seiner Arbeit am Theater erhalten; gerade in den Dialogen, die immer wieder abbrechen und ausfransen, zeigt sich das Können des Autors. So inflationär der Begriff der „Vielstimmigkeit“ in Literaturkritik und Verlagsmarketing mittlerweile verwendet wird, so treffend ist er für diesen fulminanten Roman. Ein politisch hellsichtiges und kluges, auch sprachlich überaus gelungenes Debüt.

Thomas Arzt Die Gegenstimme
Roman.
Salzburg, Wien: Residenz, 2021.
192 S.; geb.
ISBN 978-3-7017-1736-1.

Rezension vom 05.07.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.