#Roman

Die gefrorene Zeit

Anna Kim

// Rezension von Peter Landerl

Wie oft wird von Literaturkritikern beklagt, dass junge Autoren nichts zu erzählen hätten, ihre Helden gelangweilte, weltfremde, zynische Halbintellektuelle seien, die vom wahren Leben nichts wüssten und dem Leser daher nichts zu sagen hätten. Anna Kim straft dieses hartnäckige Vorurteil Lügen, sie führt uns mit ihrem zweiten Buch in die Barbarei des Jugoslawienkriegs.

Luan Alushi, Kosovo-Albaner, sucht seine seit dem Ausbruch des Kosovo-Konflikts vermisste Frau Fahrie. Schon die ersten Seiten des Buches sind von bitterkalter Eindringlichkeit. Luan füllt mit Nora, einer Mitarbeiterin des Suchdienstes des Roten Kreuzes, den Fragebogen zur Erhebung der „Ante-Mortem-Daten“ aus. Sie stellt ihm zu Fahries Verschwinden Fragen wie etwa: Was trug ihre Frau, als sie entführt wurde? Hose und Rock? War sie barfuß oder trug sie Schuhe? Trug sie Unterwäsche? Wurden ihr Zähne gezogen? Hat sie einen Überbiss? Hat sie Prothesen, künstliche Gliedmaßen? Schreibt sie mit der linken oder mit der rechten Hand? War sie zum Zeitpunkt der Entführung schwanger?

„Du hast beschlossen zu berichten, doch manchmal zittern die Hände, ein Zwillingszittern, wie das der Worte, ein Nachbeben im Hals; starrst auf die Tür, als wäre sie ein Fenster und in ihr unvergessliche Landschaft, dann ein Erwachen, du kramst in der Hose und legst den Reisepass deiner Frau, ein schmales Fotoalbum sowie die Heiratsurkunde auf den Tisch. Der Ante-Mortem-Fragebogen: Zweiundzwanzig Kapitel, die die Kennzeichen einer vermissten Person, Merkmale, die jene zu Lebzeiten, ante mortem, besaß, festhalten mit dem Ziel, durch Analyse und Vergleich mit Gebeinen, Knochenstücken, Daten post mortem, fündig zu werden. Der Fund ist nicht die Person, sondern ihr Rest.“ Luan ist gefangen in „gefrorener Zeit“. Er schwankt zwischen dem unbändigen Interesse und der fürchterlichen Angst, endlich und endgültig Gewissheit über das Schicksal seiner Frau zu erlangen. „Du sagst, wach sein ist Alptraum, Schlafen das Abwürgen von Erinnerung.“

Nora, die Ich-Erzählerin, überwindet die eigentlich notwendige professionelle Distanz zu ihrem „Klienten“, interessiert sich für sein Schicksal, kommt ihm näher und eine zarte, ungewöhnliche und unmögliche Liebesgeschichte beginnt. „Das Retten schafft Narben“: Wie ihre Kollegen – Archäologen, forensische Mediziner und Anthropologen, die Massengräber aufspüren, Leichen exhumieren und sie zuzuordnen versuchen – hat Nora zu viel Grauen, vielmehr die Resultate von Kriegsgräueln und Massakern gesehen, um nicht ständig von ihnen geplagt zu werden. „Bilder, Bilder, die sich einprägen: und rufe ich sie auf, es lässt sich nicht vermeiden, ich fühle mich dazu genötigt, weichen sie nicht mehr ab vom inneren Auge, ich sehe Verhöre, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, gehe ich an Schulen, Polizeistationen und Spitälern vorbei, Einzel- und Massengräber bei Baustellen, Kränen, Zementmischern und Baggern, und ich denke, wie praktisch, es war schon alles da, es musste nur anders verwendet werden.“

Anna Kim lässt Nora in der Ich-Perspektive erzählen; von Luan spricht sie in der Du-Perspektive. Das mag ungewöhnlich sein und für manche Leser fremd, auch manieriert wirken, doch macht diese Erzählperspektive Sinn, weil sie die Behutsamkeit der Beziehung zwischen Nora und Luan ausdrückt, aber auch ihre Fragilität auf den Punkt bringt. Sprachlich ambitioniert wird die Handlung erzählt, ohne in lähmenden Ästhetizismus zu verfallen.
Schließlich passiert das Unerwartete: „In der Leitung knackt es, es rauscht im Ohr, dann leise, aber durchdringend, sie haben Fahrie gefunden, komm nach Hause, wir möchten sie begraben; an der Nase juckt es, ein Ziehen, und es purzeln, dir scheinen mehrere hundert Kilometer, die Beine.“ Nora wird Luan auf die Reise in seine Heimat, in seine Vergangenheit begleiten. Dabei lernt sie die Traditionen und Bräuche der Kosovaren kennen. „Regeln, erklärst du mir später, sind im Kosovo allgegenwärtig, alles ist festgelegt: Wie man Probleme innerhalb der Familie zu lösen hat, wie ein Haushalt geführt gehört, wie Hunde zu behandeln sind, welche Pflichten jedes Familienmitglied übernehmen muss, in welcher Reihenfolge gegessen werden kann… Das Besondere ist, dass Bräuche und Konventionen einen Gesetzesstatus haben, sagst du, sie sind Ligj, somit unhinterfragbar.“

Es tut wohl, dass Anna Kim ihre eindringliche Geschichte gründlich recherchiert hat, kenntnisreich berichtet sie, hat ihr Buch auf soliden Untergrund gebaut. Die gefrorene Zeit ist ein Buch, das einen frieren lässt ob der Brutalität menschlichen Tuns, es ist Anna Kims Leistung, den Leser mit all dem Leid und der Gewalt nicht alleine zu lassen. Mit Sicherheit eines der wichtigsten Bücher dieses Jahres.

Anna Kim Die gefrorene Zeit
Roman.
Graz, Wien: Droschl, 2008.
152 S.; geb.
ISBN 978-3-85420-742-9.

Rezension vom 27.08.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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