Die bühnenmäßige Darstellung des weiblichen Furors ist allerdings keineswegs ein exklusives Produkt des 19. Jahrhunderts, sie ist um einiges älter und verweist uns auf den Beginn der europäischen Theatergeschichte. Woher also rührt diese Konjunktur im 19. Jahrhundert und was macht ihr Besonderes aus? Dem Theaterbesucher mag die „große Szene“ als der selbstverständliche Höhepunkt eines im besten Fall nachvollziehbaren Bühnengeschehens vorkommen. Doch tatsächlich erhält vieles, was einem Zuseher selbstverständlich vorkommt, eine andere Qualität, wenn man es als eine Reaktion auf etablierte Stereotype liest. Die „große Szene“ unterliegt einer Unzahl von Regelsystemen und Juliane Vogel richtet in ihrer großen Arbeit einen neuen Blick auf zahlreiche bisher schwer dechiffrierbare Organisationsprinzipen des Bühnengeschehens. Sie analysiert dabei eine Unzahl von Quellen – teilweise längst vergessene Theaterstücke, Handbücher der Bühnentechnik, Kritiken, Erinnerungen von und an SchauspielerInnen.
Der weibliche Furor, der sich in der „großen Szene“ in einer Fülle vonon Ausdrucksformen und formalen und inhaltlichen Variationen artikuliert, ist vielfach determiniert. Seit der französischen Revolution, so Juliane Vogel, seit der Konstituierung eines bürgerlichen Gemeinwesens, das dem traditionellen Begriff des Dramas und den ihm innewohnenden barbarischen Elementen feindlich gegenüber stand, seit der eigenartigen Koexistenz eines Rechtsstaates mit egalitärem Anspruch, der aber gleichzeitig das weibliche Geschlecht benachteiligte, gibt es in diesen Determinationen eine Konstante: die Position von Ohnmacht und Exaltation und der daraus resultierende Furor sind scheinbar anachronistisch geworden, sie werden weiblich besetzt und damit an ein Geschlecht delegiert, dessen Ohnmacht offenkundig war. „Furor opponiert gegen das Gesetz, Exaltation gegen die Ordnung, Reaktion gegen Revolution, Macht gegen Ohnmacht und bei alledem männliche gegen weibliche Dramaturgie.“ Figuren wie Grillparzers „Jüdin von Toledo“ repräsentieren der neuen Ordnung gegenüber anachronistische Kräfte. Auf der Bühne wird damit ein Konflikt zweier historischer Ordnungen ausgetragen, der angesichts der mangelnden Bühnenwirksamkeit einer rein republikanischen Theatralität durchaus erfolgversprechend war: von Kleists Penthesilea bis zum Wolter-Drama nehmen die Szenen voller weiblicher Wut- und Rachebekundungen ständig zu. Das sagt einiges über die Stellung der Geschlechter auf der Bühne aus: Die Furie steht zwar im Zentrum der Aufmerksamkeit, doch gleichzeitig entwickelt sich der „Held“ langsam zum Charakter – die grelle Dominanz des Weiblichen im Bühnengeschehen verdeckt tatsächlich seine Marginalisierung.
Seit Lady Macbeth gilt: „große Szenen“ werden schier unendlich recycelt. Die Burgschauspielerin Charlotte Wolter hat diese Welle aufgefangen und eine Unzahl von „Wolterdramen“ provoziert, in denen die Schauspielerin ihr Publikum mit dem „Wolterschrei“ (einer „akustischen Hyperbel“, so Juliane Vogel) entzückte, den Paul Schlenther zu den „Merkwürdigkeiten der Stadt Wien“ zählte: „Wer die Wolter ohne ihren Schrei kennt, der hat Rom ohne seinen Pabst gesehen.“ Doch der scheinbar omnipräsente weibliche Furor steht im Zeitalter der Vernunft unter einem Begründungszwang. Die letzte große Begründung gab die prinzipielle Medizinalisierung weiblicher Verhaltensformen durch die Konjunktur des Hysteriebegriffes, wie sie durch Jean Martin Charcot in seiner Klinik mit willigen Patientinnen vorgeführt wurde: diese in unzähligen Bildern dokumentierten Verzerrungen der weiblichen Mimik und des Körpers haben das Theater und seine Akteurinnen tief beeinflusst. Auch wenn heute an den etablierten Bühnen der Mut zur „großen Szene“ gering ist, gibt es sie immer noch im Hollywood-Film und Bretons Dictum von der Hysterie als der größten poetische Erfindung des 19. Jahrhunderts erfährt in den Schlussteilen von Juliane Vogels Untersuchung eine neuerliche Bestätigung.