#Roman

Die Füchsin spricht

Sabine Scholl

// Rezension von Sabine Schuster

Mit fünfzig Jahren können sich Füchse in Frauen verwandeln, mit hundert in Schönheiten oder Zauberinnen.
Manche verwandeln sich auch in Männer und haben Verkehr mit Frauen. Sie können Dinge aus tausend Meilen Entfernung erkennen, beherrschen die Magie, täuschen die Menschen und verwirren ihre Sinne.
Mit tausend Jahren kommunizieren sie mit dem Himmel und werden zu himmlischen Füchsen.

(Taiping Yulan, 10. Jhdt., zitiert nach dem Web-Handbuch „Religion in Japan“)

Die Füchsin spricht, heißt Sabine Scholls neuer Roman und das japanische Motiv des himmlischen Fuchses, das die Autorin ihrem Text vorausschickt, stellt diesen vorab in einen märchenhaften bzw. spirituellen Kontext, um die Leserin im nächsten Moment in einem Tränenwasserfall und zugleich in einer sehr gegenwärtigen, modernen Erzählung landen zu lassen. Es ist Kiki, die jugendliche Tochter der Romanheldin, die hier weint, und sowohl sie als auch ihre Mutter Toni sind gerade unendlich weit von den sagenhaften Möglichkeiten der Füchsin entfernt.
Toni Mayringer führt ein stressreiches Leben als alleinerziehende Universitätsangestellte in Berlin. Ihr geschiedener Mann Georg, mit dem sie samt Tochter Kiki ursprünglich nach Japan gezogen war, hat dort eine neue Familie gegründet. Ihre befristete Professur läuft bald ab, und Kiki hängt nach bestandenem Abitur in Online-Netzwerken fest und kommt kaum mehr heraus aus ihrem Bett. Eine Sex-Affäre mit dem Hausmeister der Universität hinterlässt emotionale Leere und die frühere Freundin Sascha, viel mehr Füchsin als die Heldin selbst, wandlungsfähig und egoistisch, meldet sich von einem Psychiatrie-Aufenthalt zurück und outet sich gleichzeitig als berufliche Konkurrentin. Mit ihr wollte Toni einst ein Buch über das Frauenbild in den Fuchserzählungen Japans schreiben, nun hat Sascha sich um die neu ausgeschriebene Stelle an der Uni beworben. Toni war stolz auf ihre erste Professur, obwohl diese eine Teilzeitstelle mit Befristung ist und das Büro nur ein Schreibtisch im Zimmer des machtbewussten und zunehmend feindseligen Kollegen Dietmann. Hier ist viel Druck im Spiel und man wundert sich als Leserein kein bisschen über die chronischen Rückenschmerzen der Heldin.
Auch ihr Ex-Mann Georg hat in Japan kein dauerhaftes Glück gefunden, die Ehe mit seiner ursprünglichen Assistentin Ryo gerät nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima immer mehr aus den Fugen und besteht nur weiter, weil Georg nach der Tochter nicht auch noch seinen kleinen Sohn verlassen will. Regierung und Gesellschaft in Japan leugnen die Folgen des atomaren Unfalls, und Ryo gesteht ihrem Mann als Ausländer keinerlei Kritik an dieser Sichtweise zu. Georg ist seiner Frau gegenüber in einer schwachen Position, er hat seine Arbeit an der Universität aufgegeben, kümmert sich um sein Kind, baut Gemüse an und wirkt in seiner straff organisierten japanischen Umgebung bestenfalls seltsam mit seinen existenziellen Zweifeln. Keine Rede mehr von Liebe oder von gelungenem Leben.
Allein Anniko und Bela, ein befreundetes Künstlerpaar, das in den Achtzigerjahren aus Ungarn geflohen ist, dann in den USA und in Japan gelebt hat und nun auf einem Bauernhof in der Uckermark Pumis (ungarische Hirtenhunde) züchtet, scheint auf festem Boden zu stehen. Anniko ist ein zupackender Charakter, sie nimmt Kiki für einige Zeit bei sich auf, holt sie aus den sozialen Netzwerken zurück ins Leben, schenkt ihr Aufmerksamkeit und überträgt ihr Verantwortung für die Hunde. Doch auch die Landidylle hat ihre Geheimnisse, einen komplett ausgestatteten Schutzbunker für (atomare) Katastrophen etwa, den Anniko ihrer Freundin Toni beim Weinholen im Keller zeigt. Sogar in „Pumiland“ regiert also die Angst, die diesen Text wie ein roter Faden durchzieht, egal ob es um persönliche oder globale Katastrophen geht. Sabine Scholl entwirft multiperspektivisch ein Panorama des „Danach“, sie lässt jede Figur ihre ganz persönliche Facette einer allumfassenden Unsicherheit erleben und stellt dabei privates Unglück wie familiäre Trennung oder Jobverlust gleichberechtigt neben globale Katastrophen wie den Reaktorunfall von Fukushima. Alles hinterlässt Spuren – in der Umwelt, in der Seelenlandschaft, nicht zuletzt im Körper, wie Toni von ihrem Physiotherapeuten erklärt bekommt: „Jeder hat seine eigene Variante von Schmerz. (…) In jedem Quadratzentimeter deines Körpers lagern Ereignisse der letzten Jahre.“ (18)
In Tonis Körper scheinen sich der Schmerz über gesammelte Kränkungen und die Sorge um ihre Tochter Kiki regelrecht zu materialisieren, obwohl ihr Leben durchaus gute Momente hat, etwa die Arbeit mit ihren StudentInnen, die ihr Engagement mit Anerkennung und Zuneigung honorieren. Alle ihre Probleme sind nachvollziehbar und direkt aus dem Leben gegriffen, und doch fragt man sich beim Lesen oft, warum die Autorin ihre Figur gar so stereotyp jammern lässt. Wo ist die Energie, mit der sich diese begabte und durchaus erfolgreiche Frau ihre soziale Position erkämpft hat? Was erwartet sie eigentlich von Fritz, dem Hausmeister mit dem Wecker, der sie per SMS zum schnellen Sex in eine geheime Kammer der Uni bestellt? Warum beschäftigt sie sich noch mit der untreuen Sascha? Nur in den Wortwechseln mit der energetischen Anniko gewinnt Toni an Fahrt und lässt ihren Humor durchblitzen. Bei Anniko findet sie auch ganz am Ende des Romans wieder zu sich selbst. Sie geht allein am Waldrand spazieren, atmet durch, denkt nach, und begegnet der Füchsin, diesmal ganz real, das Tier steht auf einer Waldlichtung und beginnt Toni zu umkreisen. Diese lächelt und zeigt sich bereit für Neues – es ist allerhöchste Zeit!

Sabine Scholl schreibt in klarer, präziser Sprache und in ansprechender Form – fünf Kapitel sind in kurze Abschnitte gegliedert, die pointierten Überschriften von „weeping song“ über „Das verborgene Zimmer“, „Die personifizierte Sorge“, „Rock Hard“ bis „Pumiland“ haben Witz und wecken verlässlich die Lust zum Weiterlesen. Die Erzählstimme bleibt stets nah an den Figuren und kennt ihr Innerstes bis ins Detail. In schnellen Schnitten sind personale Perspektiven und Dialoge ineinander montiert.
Eine zweite Achse – sowohl formal als auch inhaltlich – bilden die Emails, die Tonis Exmann Georg in Japan und sein alter Freund Bela in Deutschland (mit den sprechenden Adressen bexmrbsla@pumiland.de und ge34uqorg@mudyowbdnprflivatpat5egarz6deyl7pnn.com)a9zs (georg@myownprytehtivategarden.cop1amrmyj) austauschen. Sie unterbrechen als eigene Abschnitte in direkter Rede den Erzählstrom, ihr primäres Thema ist neben Persönlichem und Familiärem die Zukunftsangst nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Georg ist immer wieder derjenige, der bei seinem abgeklärter wirkenden Freund Bela Trost und Halt sucht. Am Ende macht auch er sich mit seinem kleinen japanischen Sohn auf den Weg in die Uckermark, ein Besuch über die Ferien. Anniko, Bela und seine große Tochter Kiki erwarten ihn voller Vorfreude und Neugier. „Pumiland“ entwickelt sich für die versprengten Figuren dieses Romans zum magischen Ort der Begegnung: Auch Georg wird hier Kraft tanken, seinen Blick weiten, sich ein Stück verwandeln.

Sabine Scholl greift in ihrem fünften Roman erneut Themen auf, die sie bereits in früheren Büchern verarbeitet hat: Japan etwa, wo die Autorin mehrmals eine Gastprofessur für Intercultural Studies inne hatte (siehe „Sprachlos in Japan“, Sonderzahl 2006), das Fremdsein, kulturelle Differenzen, Genderfragen, prekäre Arbeitsverhältnisse im Universitätsbetrieb oder Mutterschaft wie im letzten Roman „Wir sind die Früchte des Zorns“ (Secession Verlag, 2013). Sie formt die vielen Stimmen, die in der „Füchsin“ sprechen, im Lauf der Erzählung zu einem ganz bestimmten Ton und zu einer deutlichen Haltung. Es ist die Haltung einer kritischen Autorin, die in verschiedenster literarischer Form immer wieder das menschliche Befinden in der Welt erforscht.

Sabine Scholl Die Füchsin spricht
Roman.
Zürich: Secession Verlag, 2016.
320 S.; geb.
ISBN 978-3-905951-81-3.

Rezension vom 03.05.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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