Die erste der drei Reportagen des Bandes Die fröhlichen Untergeher von Roana ist den Assyrern gewidmet, orientalischen Christen, die von den türkischen Nationalisten des Jahres 1915 genauso verfolgt wurden wie von Saddam Husseins Regime oder den islamischen Revolutionären des Iran. Seit dem Genozid an den türkischen Assyrern, der gleichzeitig mit jenem an den Armeniern verübt wurde, lebt die Mehrzahl der Nachkommen dieser ältesten Christengemeinden des Orients in der Diaspora. Als Minderheit anerkannt sind sie in den wenigsten Fällen, in Deutschland etwa gelten sie als Türken oder Kurden. In Schweden hingegen konnte sich eine vitale assyrische Einwandererkultur entwickeln, und so hat Karl-Markus Gauß‘ orientalische Reise vor allem Skandinavien zum Schauplatz. Gauß ist kein rasender Reporter, sondern ein geduldiger Zuhörer und guter Beobachter. Von seiner Reise bringt er bewegende Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart eines hierzulande so gut wie unbekannten Volkes mit, das in seiner alten Heimat besonders von seinen nächsten Nachbarn, den ebenfalls verfolgten Kurden, drangsaliert wurde und wird. Darüberhinaus erfährt der Autor von seinen Gesprächspartnern aber auch Dinge, die man genausogut über Österreich sagen könnte: „Den Fernsten zu respektieren, mit dem ich nicht viel gemein habe, ist leicht. Aber mit dem Nächsten auszukommen, der mir in fast allem gleicht, das ist schwer.“ Ein Schelm, wer angesichts der kurdisch-türkisch-assyrischen Streitigkeiten und Grausamkeiten, in deren Zusammenhang der Satz fällt, etwa an österreichisch-tschechische oder gar österreichisch-deutsche Beziehungsprobleme denkt. Sicher nicht an die Alpenrepublik erinnert wiederum der Fall eines Paares von typischen „türkischen“ Arbeitsemigranten, die eigentlich Assyrer sind und in Schweden fünf Kinder großgezogen haben. Die Eltern waren angelernte Arbeiter, alle fünf Kinder sind heute Akademiker, deren Vielsprachigkeit in Skandinavien nicht als auszumerzender Makel gilt, sondern als Plus.
Dass es auch dem interessiertesten Gast nie gelingen wird, alle Nuancen, feinen Unterschiede und kleinen Geheimnisse einer Minderheit, die in sich alles andere als homogen ist, herauszufinden, ist ohnehin anzunehmen – dass der Autor auch gar nicht versucht, seine gelegentliche Verwirrung zu kaschieren, nimmt für ihn ein. Von Ungereimtheiten und dem Streit um eine wahre Lehre, die es wohl gar nicht gibt, ist dann auch die Rede, wenn sich Karl-Markus Gauß zu den Zimbern aufmacht, den Nachkommen mittelalterlicher bairischer Einwanderer, die in entlegenen Tälern und Hochebenen zwischen Trient und Verona über die Jahrhunderte einen althochdeutschen Dialekt konserviert haben. Die Zahl der Zimbernforscher und der konkurrierenden Lehrmeinungen zu linguistischen und historischen Fragestellungen hat die Zahl der Sprecher des Zimbrischen schon längst übertroffen. Die Geschichte des Bergvolkes ist eines der vielen Musterbeispiele für die Brutalität, mit der Gesellschaften allzu häufig auf die bloße Andersartigkeit von Minderheiten reagieren. Die alte Autonomie des mit Holz handelnden Bergvolkes zerstörte Napoleon, gegen die Habsburgerherrschaft in Norditalien lehnten sie sich auf und kämpften an der Seite Garibaldis für die Gründung des italienischen Staates. Im Ersten Weltkrieg wurde ihr Siedlungsgebiet von der k. u. k. Armee verwüstet, von Mussolini wurde ihre Treue zu Italien mit Verfolgung und Unterdrückung belohnt. Und doch sind die Zimbern die „fröhlichen Untergeher“, die dem Buch seinen Titel geben. Relativ gelassen scheinen sie den Untergang ihrer einst blühenden Kultur zu beobachten, den auch Parolen wie „Die Zeit des Zimbrischen kommt erst“, die ein etwas verschrobener Salzburger Zimbernforscher verbreitet, nicht aufhalten werden können.
Weniger skurril, dafür umso tragischer sind die Erkenntnisse, die auf den Wissbegierigen warten, macht er sich auf die Suche nach den Karaimen. Es handelt sich um eine nur wenige hundert Menschen umfassende Minderheit Litauens, deren Vorfahren sich in vorchristlicher Zeit vom Judentum abgespalten haben. Ein litauischer Großfürst holte einst karaimische Soldaten und ihre Familien ins Land, wo sie jahrhundertelang eine kleine, aber privilegierte Minderheit bildeten. Den Holocaust überlebten sie, da die nationalsozialistische Reichsstelle für Sippenforschung der Ansicht war, die Karaimen seien „rassisch nicht als Juden, sondern als Angehörige eines versprengten Turkstammes anzusehen und daher von den gegen die Juden zu ergreifenden Gewaltmaßnahmen auszunehmen.“ Manche Karaimen retteten Juden, indem sie sie in Listen von „Turkstämmigen“ aufnahmen, die sie den Nazis übergeben mussten, andere dienten in den nationalsozialistischen tatarischen Bataillonen, wieder andere wurden von SS-Verbänden dann doch als Juden ermordet. Obwohl Religion und Sprache des eigentümlichen Volkes weitgehend vergessen sind, halten die Nachkommen der großfürstlichen Leibgardisten hartnäckig an ihrer Besonderheit fest: „Irgendwer wollen schließlich auch wir sein. Können Sie das verstehen?“
Die Reise zu den Karaimen ist ein schöner, widerständiger Schluss für ein langjähriges Projekt, das nur allzu häufig aussterbende und verschwindende Minderheiten zum Thema hatte. In seinen Reportagen versteht es Karl-Markus Gauß, Hintergrundwissen, eigene Beobachtungen und die Stimmen seiner Gesprächspartner zu so informativen wie fesselnden, oft berührenden, genauso oft unterhaltsamen Texten zu verknüpfen und zu verdichten. Seinen letzten Bericht bezeichnet er dennoch als gescheitert und bedauert abschließend, „nicht allzu viel von der Welt zu begreifen, die zu erkunden ich mich aufgemacht hatte“. Das Gaußsche Scheitern stellt sich als Gegenteil eines Pyrrhus-Sieges heraus: Keine Niederlage, sondern ein Gewinn.